Wissenschaftler der Universität Paderborn haben rund 7650 Schüler*innen der letzten beiden Abiturjahrgänge zu ihrer politischen Einstellung und Beurteilung des Corona-Krisenmanagements befragt
Im Juni wurden Abiturient*innen in ganz Deutschland bereits das zweite Jahr in Folge zu ihren Erfahrungen mit dem Lernen auf Distanz von Bildungswissenschaftlern und Psychologen der Universität Paderborn in Kooperation mit dem Essener Startup ABIHOME befragt. Durchgeführt wurde die Studie von Tim Rogge aus der Arbeitsgruppe für Allgemeine Didaktik, Schulpädagogik und Medienpädagogik und Dr. Andreas Seifert aus der Arbeitsgruppe für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie. An der nicht-repräsentativen Befragung beteiligten sich mehr als 7500 Schüler*innen.
Neben Erkenntnissen zu im Distanzunterricht besonders belasteten Schüler*innengruppen und Ursachen des Belastungsempfindens, beispielsweise das Unterrichtsmodell des „Wechselunterrichts”, stellten die Forscher auch Fragen zur Akzeptanz bildungspolitischer Entscheidungen unter den Schüler*innen. Hier zeigte sich eine deutliche Unzufriedenheit der jungen Erwachsenen mit den bildungspolitischen Entscheidungen während der Corona-Pandemie, mit denen rund 70 Prozent der befragten Abiturient*innen unzufrieden oder eher unzufrieden waren.
Um die Frustration der Abiturient*innen mit dem politischen System und seinen Entscheidungsträger*innen besser verstehen zu können, wurden diese Befunde daher jetzt in einer Anschlussstudie vertiefend erforscht. Die Folgeuntersuchung fokussierte insbesondere die Ursachen der Frustration sowie mögliche Folgen für die politische Sozialisation der potenziellen Erstwähler*innen. Dazu ermöglichte ABIHOME eine zweite Umfrage der Abiturjahrgänge 2020 und 2021 in den ersten drei Septemberwochen, um eine möglichst breite Rückmeldung dieser Wähler*innenschicht noch vor der Bundestagswahl zu erreichen. An dieser zweiten Umfrage beteiligten sich insgesamt 7,654 Schüler*innen der letzten beiden Abiturjahrgänge aus ganz Deutschland.
Abiturient*innen fühlten sich von Politik allein gelassen
Die befragten Abiturient*innen fühlten sich während der Corona-Pandemie mehrheitlich nicht ernst genommen (65% stimmen zu oder voll zu), attestierenden der Politik, kein Verständnis für ihre Interessen gehabt (67,8% stimmen zu oder voll zu) und keine Rücksicht auf sie genommen zu haben (62% stimmen zu oder voll zu). In der Folge stimmen 57,6 % der Erstwähler*innen der Aussage (eher) zu „Ich fühle mich von der Politik während der Corona-Pandemie allein gelassen” und geben zu 47,4 % ganz oder teilweise an, „von der Politik sehr enttäuscht” zu sein.
Zögerliches Handeln und schlechte Kommunikation in der Bildungspolitik wird kritisiert
Als Treiber dieser Enttäuschung und Frustration spielt hier die Bildungspolitik der Länder eine besondere Rolle: Sowohl in Hinblick auf die Organisation der Abiturprüfung als auch in Hinblick auf die Kommunikation zwischen Bildungsministerien und Schulen wird die Bildungspolitik während der Corona-Pandemie von den Absolvent*innen der letzten beiden Abiturjahrgänge sehr schlecht bewertet. So stimmen 79,6 % der Befragten der Aussage „Die Politik hätte viel früher eine Lösung für das diesjährige Abitur finden müssen” und 80,3 % der Aussage „Die Kommunikation zwischen der Politik und den Schulen war schlecht” zu oder voll zu. 72% sind (eher) der Meinung, dass die Belastung des Abiturs während der Corona-Pandemie von der Politik unterschätzt wurde und als Konsequenz die Ungleichheit zwischen den Schüler*innen noch verstärkt wurde (70,9 % stimmen zu oder voll zu).
Dabei scheinen die jungen Erwachsenen zwischen den Politikebenen zu unterscheiden: So wird das Krisenmanagement der Politik zwar insgesamt eher negativ beurteilt (42,3% bewerten es mit „schlecht” oder „sehr schlecht”), dasjenige der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin allerdings eher neutral bis positiv. So bewerten 47% der Befragten das Krisenmanagement der Bundeskanzlerin mit „gut” oder „sehr gut”. Dagegen wird das Krisenmanagement von Politiker*innen der Bildungspolitik auf Bundes- und Landesebene schlecht beurteilt.
Erstwähler*innen empfinden geringe Solidarität mit der eigenen Generation
Als zweiter Treiber politischer Frustration bei Erstwähler*innen scheinen intergenerationale Konflikte infrage zu kommen. Während fast die Hälfte der befragten Erstwähler*innen der Meinung sind, dass die Forderung nach Solidarität mit älteren Menschen während der Pandemie gerechtfertigt war (48,9% stimmen zu oder voll zu), stimmen 51,2% der Befragten ebenfalls der Aussage (eher) zu, dass sich „Ältere Menschen […] gegenüber meiner Generation nicht solidarisch zeigen.” Hierbei scheint insbesondere das Verhalten älterer Menschen während der Pandemie als auch ihr Verhalten in Hinblick auf die Klimakrise eine große Rolle zu spielen. Der Aussage „Die Kosten der Corona-Pandemie werden der jüngeren Generation aufgebürdet, wichtige Inventionen in ihre Zukunft, zum Beispiel in den Bereichen Bildung und Klimaschutz dafür zurückstellt” stimmen 75,3% der Befragten (voll) zu. Dass neben der Bildungspolitik während der Corona-Pandemie die Angst vor den Folgen des Klimawandels eine Ursache politischer Frustration bei Erstwählern darstellt, legt auch die direkte Frage nach Sorgen vor extremen Auswirkungen des Klimawandels nahe, die 83% der befragten Abiturient*innen der letzten beiden Jahrgänge zustimmend beantworten.
Weniger Vertrauen in Politik als vor der Pandemie, aber sehr hohe Wahlbereitschaft
Insgesamt berichten die Befragten mit 42,3%, der Politik (viel) weniger zu vertrauen als vor der Pandemie. Dennoch überwiegt die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland, was sich mit 92% auch in der sehr hohen Wahlbereitschaft der Erstwähler*innen ausdrückt. Nach einer Parteipräferenz bei der Bundestagswahl gefragt, gaben die jungen Erwachsenen zu 29,7% an, Bündnis 90 / Die Grünen, zu 14,6% die FDP, zu 10,5% die SPD, zu 7,8% die Linke, zu 5% die CDU/CSU, zu 2,7% die Partei und zu 1,8% die AfD wählen zu wollen. 25,8% gaben an, noch unentschlossen zu sein.
Von den 7,9% der Befragten, die angaben, nicht wählen zu gehen, sind 42,8% zum Zeitpunkt der Bundestagswahl noch nicht wahlberechtigt. Weitere 23,4 % haben kein Wahlrecht, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Die restlichen Befragten gehen aus inhaltlichen Gründen nicht wählen: So geben 23,1% an, dass keine der Parteien sie anspricht, 17,5% finden die Kanzlerkandidat*innen nicht ansprechend und 15,9% geben an, im Moment so von der Politik enttäuscht zu sein, dass sie nicht wählen gehen möchten. 11% sind der Meinung, dass wählen „eh nichts” bringt und 5,1% interessieren sich nicht für die Wahl.