Untersuchungen der Universität Paderborn legen neurophysiologische Veränderungen nach Knieverletzungen nah
Eine falsche Bewegung und das Kreuzband ist gerissen – eine folgenschwere Verletzung, die gerade bei Top-Athlet*innen häufig auftritt. Trotz einer operativen Wiederherstellung oder Nachbildung der Fasern kommt es nicht selten zu anhaltenden Schmerzen und funktionellen Defiziten. Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass Letzteres auf Veränderungen bestimmter Verarbeitungsprozesse im Gehirn zurückzuführen sein könnte, wie Tim Lehmann vom Department Sport und Gesundheit der Universität Paderborn berichtet. Unter der Leitung von Prof. Dr. Jochen Baumeister erforscht der Wissenschaftler, wie solche neurophysiologischen Vorgänge ablaufen und wie sie mit dem motorischen Verhalten von Kreuzbandpatienten zusammenhängen.
Mechanismen der posturalen Kontrolle im Fokus
„Nach einer Operation haben viele Patienten Schwierigkeiten, die gewohnte Stabilität im Kniegelenk zu erreichen und weisen so eine verminderte Gleichgewichtsfähigkeit auf. Man nennt das auch posturale Kontrolle. Damit steigt das Risiko einer erneuten Verletzung des Kniegelenks, selbst nach Abschluss der Rehabilitation“, erklärt Lehmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Trainings- und Neurowissenschaften. Aktuelle Forschungsergebnisse weisen Lehmann zufolge nun auch auf veränderte Prozesse im Bereich der Großhirnrinde hin: „Die Defizite legen eine Umgestaltung komplexer sensomotorischer Netzwerke nah. Dazu zählen die Areale und deren Verknüpfungen, die mit der Wahrnehmung und Verarbeitung bestimmter Reize beschäftigt sind. Sie sind also für die Steuerung von Bewegungen zuständig. Während bisherige Studien überwiegend motorische Reaktionen untersucht haben, stehen in unseren Forschungsprojekten die neurophysiologischen Mechanismen der Gleichgewichtskontrolle im Fokus.“
Profisportler*innen unter der Lupe
An den Untersuchungen nehmen Proband*innen aus unterschiedlichen Sportarten und Leistungsklassen teil: vom Kreisliga-Fußballer bis hin zum Handball-Weltmeister. Mithilfe sogenannter Kraftmessplatten berechnen die Expert*innen Schwankungsparameter, um so die Gleichgewichtsfähigkeit der Sportler*innen objektiv beurteilen zu können. „Über ein zusätzlich angebrachtes 3D-Kinematiksystem werden Gelenkwinkelveränderungen und Körpersegmentbeschleunigungen aufgezeichnet. Gleichzeitig wird mittels mobiler, nicht-invasiver Elektroenzephalographie (EEG) die Aktivität des Gehirns erfasst, um so einzelne Hirnareale, aber auch die funktionellen Verbindungen zwischen verschiedenen Arealen zu beschreiben“, erklärt Lehmann.
Bewegungssteuerung wird angepasst
Die Wissenschaftler*innen haben bei den Kreuzbandpatient*innen in Abhängigkeit vom Standbein – verletzt oder unverletzt – unterscheidbare Verknüpfungsmuster im Gehirn gefunden. Je nachdem, ob das gesunde oder das verletzte Bein verwendet wurde, liefen bei den Probanden unterschiedliche Prozesse in der Schaltzentrale ab. Dazu Lehmann: „Das deutet darauf hin, dass die Kreuzbandpatienten möglicherweise vermehrt visuelle und somatosensorische, also die Körperwahrnehmung betreffende Informationen in kortikale Netzwerke einbeziehen, um so verletzungsbedingte Veränderungen im Kniegelenk auszugleichen. Einfach ausgedrückt: Das Gehirn passt seine Strategien zur Bewegungssteuerung an“.
Da die Rolle dieser Netzwerk-Modulationen bisher allerdings noch ungeklärt ist, sollen weitere Studien zur Überprüfung der Ergebnisse folgen. Langfristig soll die Paderborner Forschung den Boden für zukünftige Langzeitstudien zum funktionellen Fortschritt auf neurophysiologischer Ebene bereiten und wichtige Erkenntnisse für die Therapie liefern. Das Projekt läuft bis Ende nächsten Jahres.
Nina Reckendorf, Stabsstelle Presse, Kommunikation und Marketing
Der Arbeitsbereich Trainings- und Neurowissenschaften:
Neben der klassischen Betrachtung der Hauptbeanspruchungsformen in Training und Wettkampf steht im Arbeitsbereich Trainings- und Neurowissenschaften der Universität Paderborn das Gehirn im Sinne einer neurowissenschaftlichen Perspektive im Mittelpunkt – insbesondere im Hinblick auf Koordination und Kognition in Bezug auf Leistung und Gesundheit.