Paderborner Kirchenhistorikerin arbeitet in neuer Forschungsgruppe mit
Im Jahr 2019 lebten in der Bundesrepublik nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz rund 23 Millionen Katholikinnen und Katholiken. Doch ein großes geschlossenes katholisches Milieu ist längst Vergangenheit. Mittlerweile gibt es verschiedenste Formen von „Katholischsein“. Wie veränderte es sich zwischen 1965 und 1989 in der BRD? Was bedeutete es, zwischen Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils und Mauerfall katholisch zu sein? Und: Wie gestalteten Katholikinnen und Katholiken den sozialen und kulturellen Wandel der westdeutschen Gesellschaft mit? Das untersuchen Kirchenhistoriker*innen und Historiker*innen von neun Hochschulen seit Oktober in der Forschungsgruppe „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken und Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965 -1989/90“. Sie wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über drei Jahre mit rund drei Millionen Euro gefördert, von Kirchenhistoriker Prof. Dr. Andreas Holzem von der Eberhard Karls Universität Tübingen geleitet und von der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn koordiniert. Teil der Gruppe ist Prof. Dr. Nicole Priesching, stellvertretende Leiterin des Instituts für Katholische Theologie und Inhaberin des Lehrstuhls für Kirchen- und Religionsgeschichte der Universität Paderborn.
„Bereits Zeitgenossen hatten den Eindruck, dass sich die Gesellschaft der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren grundlegend veränderte. Es gab eine große Entwicklungsdynamik. Diese aufzuklären ist ein wesentlicher Impuls aktueller Geistes- und Sozialwissenschaften. Dass die religiöse Orientierung der Bevölkerung zu dieser Dynamik unmittelbar dazugehört, liegt auf der Hand. Zwischen religiösem Gestaltwandel und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen gab es einen engen Zusammenhang“, erklärt Nicole Priesching. Die neue Forschungsgruppe wolle daher untersuchen, welchen spezifischen Beitrag Katholik*innen zur Gestaltung der westdeutschen Gesellschaft seit Mitte der 1960er Jahre leisteten und so helfen, den konstruktiven Beitrag von Religion für die Gesellschaft besser zu verstehen.
Kirchengeschichtliche und zeithistorische Forschung unter einem Dach
Religiöse Transformationsprozesse von den 1960er Jahren bis hin zum Ende der alten Bundesrepublik 1989 werden derzeit sowohl von Kirchenhistoriker*innen als auch von Zeithistoriker*innen untersucht. Die Forschungsgruppe möchte beide Disziplinen zusammenbringen: „Das Ineinander von sakral-religiösen Formveränderungen und gesellschaftspolitischem Gestaltwandel ist zu komplex für Einzelforschungen. Nur ein interdisziplinärer Forschungsverbund kann die Konturen schärfen. Bis in den Alltag durchgreifende religionskulturelle, politische und sozioökonomische Ab-, Um- und Aufbrüche wurden von den Zeitgenossen als Krisen, aber auch als Befreiungen erfahren. Darum fokussiert sich die Forschungsgruppe auf das Sprechen, Handeln und emotionale Erleben katholischer Akteure: Die Semantiken, Praktiken und Emotionen des Katholischseins stehen bei allen Teilprojekten der Gruppe im Vordergrund“, erläutert Nicole Priesching den Forschungsansatz.
Frauen im Spannungsverhältnis von Katholischsein und akademischer Ausbildung
Welche neuen Formen des Katholischseins sich ab Mitte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik entwickelten und wie Katholikinnen und Katholiken sozio-kulturellen Wandel gestalteten und zentrale gesellschaftliche Debatten mitprägten, untersucht die Forschungsgruppe in mehreren Teilprojekten. Nicole Priesching konzentriert sich in ihrem Projekt auf katholische Frauen, die sich für eine akademische Ausbildung entschieden: „In meinem Teilprojekt möchte ich das Katholischsein von Katholikinnen anhand von Konflikten beschreiben, die sich im Zuge einer Akademisierung und Professionalisierung sozial-caritativer Berufe von Frauen zeigten.“
Die Kirchenhistorikerin nimmt dabei die Studentinnen der 1971 gegründeten Katholischen Hochschule NRW (KatHO NRW) mit ihren Standorten Aachen, Köln, Münster und Paderborn in den Blick: „Mit Errichtung der Fachhochschulen veränderten sich Berufsbilder und Geschlechterrollen sowohl zwischen Männern und Frauen als auch zwischen Ordens- und Laienfrauen. Das lässt sich anhand des Wandels vom Mütterlichkeits- zum Professionalisierungsdiskurs beschreiben und untersuchen. Für das Projekt ist außerdem der Theorie-Praxis-Transfer im Ausbildungsgefüge der Fachhochschule interessant: Inwiefern empfanden die Studentinnen der KatHO ihre Rolle in der Gesellschaft als Grenzüberschreitung traditioneller Räume und wie setzten sie ihr gesellschaftliches Engagement mit ihrem Katholischsein in Beziehung?“ Über Interviews mit ehemaligen Studentinnen möchte Priesching die zeitgenössischen Emotionen im Zuge dieses Wandlungsprozesses erfassen und erforschen, wie katholische Frauen im Laufe der 1970er und 1980er Jahre ihr Katholischsein mit ihrer Geschlechteridentität verbanden.
Weitere Informationen zur Forschungsgruppe
An der Forschungsgruppe sind neben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Universität Paderborn Forschende der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Potsdam und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beteiligt.
Unter Forschungsgruppen versteht die DFG Arbeitszusammenschlüsse mehrerer herausragender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die gemeinsam eine Forschungsaufgabe bearbeiten. Die Förderung soll helfen, für eine mittelfristige, meist auf acht Jahre angelegte enge Kooperation die notwendige personelle und materielle Ausstattung bereitzustellen.
Simon Ratmann, Stabsstelle Presse, Kommunikation und Marketing