Peer Re­views in der Kri­tik?

Paderborner Chemiker Prof. Dr. Bauer über Kontrollmechanismen in der Wissenschaft

Schon seit Beginn der Pandemie diskutieren Expert*innen nicht nur unter sich über neue wissenschaftliche Erkenntnisse zum Coronavirus. Das öffentliche Interesse an neuen Studienergebnissen ist enorm, die Menge an Publikationen außergewöhnlich groß. Zwei vielbeachtete Corona-Studien zur Behandlung von Covid-19-Patient*innen mussten jüngst allerdings wieder zurückgezogen werden – obwohl beide zuvor das gängigste Verfahren der Qualitätsprüfung von wissenschaftlichen Studien durchliefen: das sogenannte „Peer Review“. Prof. Dr. Matthias Bauer, Chemiker der Universität Paderborn und Forschungsdekan der Fakultät für Naturwissenschaften, über wissenschaftliches Arbeiten, die Bedeutung von Qualitätsstandards bei Publikationen und nicht begutachtete Vorveröffentlichungen von Studien.

Wichtiges Werkzeug wissenschaftlicher Qualitätskontrolle

„Das Peer-Review Verfahren hat sich über einen langen Zeitraum als zentrales Instrument wissenschaftlicher Qualitätskontrolle etabliert und bewährt. In dem Verfahren werden Publikationen, nachdem sie in einem Wissenschaftsjournal zur Veröffentlichung eingereicht wurden, durch zwei bis fünf ausgewiesene Experten auf dem jeweiligen Gebiet („Peers“) begutachtet“, erklärt Bauer. Im Idealfall, so der Paderborner Chemiker, würden präsentierte Daten, Interpretationen und Schlussfolgerungen durch eine unabhängige Kontrolle auf Herz und Nieren überprüft. Um Vorurteile oder Befangenheiten zu vermeiden, kann das Peer Review-Verfahren doppelblind erfolgen. Gutachter*innen und Autor*innen bleiben dann beim Begutachtungsprozess anonym. So sollen persönliche Meinungen zu Kolleg*innen, Geschlechtern, Herkunftsländern etc. außen vor gelassen werden. Kritiker*innen hingegen bemängeln bei diesem Vorgehen das Fehlen von Transparenz und Öffentlichkeit. Bauer: „Was auch nicht verschwiegen werden sollte, ist, dass die Begutachtung durch „nur“ zwei bis fünf Peers niemals eine absolute Sicherheit bezüglich der publizierten Daten und Interpretationen gewährleisten kann. Die Verantwortung für die Richtigkeit der Daten tragen die Autoren, die auch die Grenzen der angewandten Methoden und Unsicherheiten im Idealfall klar benennen.“

Fehlerhafte Interpretation durch Medien

Da Peer Review-Verfahren zeitaufwendig sind und teilweise über Jahre gehen können, entscheiden sich insbesondere in der Corona-Krise einige Forscher*innen dafür, diesen Prozess zu beschleunigen. Doch darüber wird derzeit kontrovers diskutiert. Die Qualitätsdebatte konzentriert sich vor allem auf Vorveröffentlichungen auf sogenannten Preprint-Servern wie „bioRxiv“ und „medRxiv“. Auf den digitalen Plattformen können Forschungsergebnisse hochgeladen werden, die frei zugänglich sind, noch bevor sie begutachtet wurden. Bauer: „Preprint-Server haben sowohl Vor- als auch Nachteile. Wissenschaftliche Arbeiten entstehen oft in einem sehr kompetitiven Umfeld. Eine zeitnahe Veröffentlichung ist für die Konkurrenzfähigkeit einer Gruppe sehr wichtig. Preprint-Veröffentlichungen verkürzen den Prozess. Außerdem bieten Vorveröffentlichungen schon früh einer großen Community den Zugang, womit auch das Feld potentiell gutachtenfähiger Peers wächst. Ein Nachteil liegt hingegen darin, dass Preprints noch nicht institutionalisiert begutachtet wurden und somit Fehler oder falsche Interpretationen beinhalten können und sie psychologisch auch zu unausgegorenen Veröffentlichungen verleiten. Hinzu kommt, dass populäre Medien oft leider nicht sauber zwischen Preprint-Veröffentlichungen und Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Journalen unterscheiden. Das ist ein großer Fehler, der zu einer verfälschten öffentlichen Wahrnehmung und damit auch zu einer Fehleinschätzung der wissenschaftlichen Leistungen und Aussagen durch die Öffentlichkeit führt.“

Sind Studienresultate erst einmal publik, können sie in kürzester Zeit weitreichende Auswirkungen haben. Denn während der Krise arbeiten nicht nur Forschungskolleg*innen schnell mit den neuen Daten, sondern auch Entscheidungsträger*innen, die dann Quarantänezeiten oder Schulschließungen von den neuen Erkenntnissen abhängig machen. Wie verändert das Wissenschaft und Politik? „Die Wissenschaft soll und darf es nicht verändern, da sie nicht der öffentlichen Wahrnehmung folgen kann. Wissenschaft ist faktenbasiert und experimentelle Daten sind – wenn sie fehlerfrei erhalten und aufgezeichnet wurden – frei von jeder Kritik“, betont Bauer. Wissenschaftler*innen wüssten um die Schwächen von Preprint-Veröffentlichungen. Die Chance, dass etwas übersehen wurde, sei etwas größer als nach einem Peer-Review. Entscheidungen, die auf Basis von Preprints getroffen werden, seien laut Bauer auf jeden Fall fundiert und allemal besser als Entscheidungen, denen keine Daten zugrunde liegen.

Aktive Diskussions- und Fehlerkultur

Jüngst haben die beiden Medizinzeitschriften „The Lancet“ und das „New England Journal of Medicine“ zwei viel beachtete Veröffentlichungen zur Behandlung von Covid-19-Patienten nach massiver Kritik an den Studien zurückgezogen. Teilweise erklärten sogar die Autoren nach der Publikation, dass sie sich von ihrer eigenen Studie distanzieren. Beide Arbeiten durchliefen zuvor das Peer Review-Verfahren. Bauer: „Generell ist ein Rückzug von Publikationen nichts Dramatisches. Es ist natürlich ein Eingeständnis, wenn signifikante Fehler gemacht wurden, die vom Autor, dem Editoren-Team und im Peer-Review nicht erkannt wurden. Kein System ist frei von Fehlern, jede Methode hat ihren Fehlerbalken, der für einen sehr kleinen Teil von Fällen auch voll ausgereizt wird.“ Solange keine Manipulation von Daten vorliege, sei laut des Paderborner Wissenschaftlers ein Rückzug einer Publikation nur ein Zeichen für eine aktive und funktionierende Diskussions- und Fehler-Kultur.

Wissen braucht Zeit

Schlussendlich macht Bauer darauf aufmerksam, dass ein stetiges Hinterfragen zum Grundwesen von Wissenschaft hinzugehöre: „Aktuell gibt es sicherlich auch ein Missverständnis in der öffentlichen Wahrnehmung von Wissenschaft. Das Schaffen von ‚sicherem‘ Wissen ist ein Prozess, der sehr lange dauern kann und der ständige Überprüfung von Thesen und Postulaten erfordert. Viele Wissenschaftler – zu denen ich auch gehöre – folgen dem Falsifikationismus von Carl Popper. Vereinfacht bedeutet dies, dass eine These nie bewiesen werden kann und solange gültig sein mag, bis sie widerlegt wird. Da meiner Meinung nach eine gute wissenschaftliche Arbeit immer ein Postulat oder eine These für weitere Arbeiten hervorbringen sollte, ist es nicht verwunderlich, dass Aussagen nach einiger Zeit revidiert oder relativiert werden müssen, da die angewandten Methoden sich auch ständig verbessern.“

Foto (Universität Paderborn, Besim Mazhiqi): Matthias Bauer ist Chemiker der Universität Paderborn und Forschungsdekan der Fakultät für Naturwissenschaften.

Kontakt

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Prof. Dr. Matthias Bauer

Anorganische Chemie - Arbeitskreis Bauer

Lehrstuhlinhaber - Anorganische Chemie nachhaltiger Prozesse

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