Edmund Husserl gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts und als Begründer der sog. Phänomenologie, einer philosophischen Strömung, die sich mit der unmittelbaren geistigen Auffassung des Wesens der Dinge beschäftigt. Wie man heute weiß, trug Edith Stein, seinerzeit Husserls Assistentin, maßgeblich zur Ausarbeitung dieser Lehre bei. Dennoch wird die Philosophin bei der Rezeption oft ausgeschlossen. Dr. Mette Lebech, Assistant Professor an der Maynooth University in Irland, ist für ihre Forschungsarbeit rund um Edith Stein nun nach Paderborn gereist, um die Rezeptionsgeschichte ein Stück weit gerade zu rücken.
Am „Center for the History of Women Philosophers and Scientists” (HWPS) unter der Leitung von Prof. Dr. Ruth Hagengruber an der Universität Paderborn verbringt Lebech seit September ihr Sabbatjahr in Form eines Forschungssemesters. Seit mehr als 20 Jahren lehrt die gebürtige Dänin Philosophie an der Maynooth University und stellt bei ihren Forschungen und Vorlesungen Philosophinnen und ihr Wirken in den Mittelpunkt. Ihr besonderes Interesse gilt dabei der im zweiten Weltkrieg ermordeten Philosophin Edith Stein.
„Am HWPS-Center in Paderborn wird die Rezeptionsgeschichte aller bedeutenden Philosophinnen zusammengestellt, das ist einmalig in Europa“, so Lebech. „Dadurch ergeben sich neue Blickwinkel, denn die Rezeptionsgeschichte philosophischer Werke schätzt Frauen nicht so sehr wie Männer“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Edith Stein ist eine dieser Frauen. Sie ist eine wichtige Philosophin, ohne ihre Worte kommt die Phänomenologie nicht weiter und dennoch tritt sie als Frau quasi unsichtbar hinter die Arbeit ihres Doktorvaters Husserl zurück“, sagt die Expertin: „Es gleicht fast einer Antirezeption – alle schreiben über das Thema, aber nicht über Stein.“
„Gehorchen kann ich nicht“
Edith Stein schlug zu ihrer Zeit eine für Frauen unübliche Laufbahn ein. 1891 in Breslau geboren und im jüdischen Glauben erzogen, promovierte sie mit Bestnote bei dem berühmten Philosophen Edmund Husserl und wurde seine Assistentin. Obwohl Stein Husserls Werke über Intersubjektivität nicht nur redigiert, sondern viel eigenständig zu den Texten beigetragen habe, gelte das Ergebnis dieser Zusammenarbeit in weiten Kreisen immer noch als ausschließlich „Husserls Werk“, sagt Lebech. Stein habe Husserl außerdem mehrfach auf Mängel und Widersprüchlichkeiten in den erarbeiteten Werken zur Phänomenologie hingewiesen, die er jedoch weder beachtet noch umgesetzt habe, erklärt die Wissenschaftlerin. Für Stein sei dies der Ansporn gewesen, eigenständig weiterzuarbeiten und die Lücken selbst zu schließen.
Ein Thema, das bei Husserl offen blieb und mit dem sich Stein genau aus diesem Grund beschäftigte, war die sog. Einfühlung. Darunter verstand Stein das Bemühen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und das Erleben anderer zu erfassen. Durch Einfühlung sei es möglich, Wertvorstellungen und -hierarchien von Individuen und Gemeinschaften auszumachen, erläutert Lebech. „Die Erfahrung von Werten formt die Persönlichkeit, den Charakter, und die Gemeinschaft, sie ist eine wichtige Voraussetzung, um Intersubjektivität zu definieren“, so die Expertin. Stein hat mehrfach am eigenen Leib erfahren müssen, was es heißt, aufgrund von Werten und Wertvorstellungen degradiert zu werden, weiß Lebech: Trotz ausgezeichneter Doktorarbeit verwehrte man ihr wiederholt eine weitere akademische Laufbahn. Mehrere Habilitationsversuche an verschiedenen Universitäten scheiterten und selbst Husserl, ihr Lehrer, ließ sie nicht zur Habilitation zu, weil sie eine Frau war. Später wurde ihre eine Anstellung unmöglich gemacht, weil sie Jüdin war. „Die Herabwürdigung, die Stein wie viele andere erfahren musste, bestätigte andererseits ja auch gerade die Bedeutung ihrer Forschung über Wertvorstellungen und Intersubjektivität“, so Lebech.
„Frauen haben viel zur Philosophie beigetragen. Edith Stein, die sich über ihren Doktorvater hinwegsetzte, um Wissenslücken zu schließen, ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel“, bekräftigt die Wissenschaftlerin. „Gehorchen kann ich nicht“ waren die Worte, mit denen Stein schließlich die Zusammenarbeit mit Husserl beendete.
Auf der Suche nach der Wahrheit
In den Folgejahren veränderte sich Steins Leben: Nach einer Lebenskrise konvertierte Stein zur katholischen Kirche, arbeitete als Lehrerin und beschäftigte sich öffentlich mit der Frauenfrage. Als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, trat die gebürtige Jüdin ins Kloster der Karmelitinnen ein, zunächst noch in Deutschland, dann flüchtete sie in die Niederlande, wo sie als Nonne weiter wissenschaftlichen Fragen nachging. „Die Vereinigung von Wissenschaft und Glaube, wie wir es bei Stein in ihrer Kreuzeswissenschaft sehen, gibt es kein zweites Mal“, sagt Lebech. 1942 wurde Stein von der Gestapo verhaftet, nach Auschwitz deportiert und im Konzentrationslager ermordet. Papst Johannes Paul II würdigte ihre Verdienste viele Jahre später durch ihre Selig- und Heiligsprechung.
Um das Wirken der Philosophin Edith Stein weiter zu erforschen, plant Lebech zusammen mit Hagengruber vom HWPS-Center für das kommende Jahr ein Projekt, in dem die Arbeiten Steins von den Werken Husserls unterschieden und als selbständige Beiträge untersucht und bewertet werden. Obwohl Stein eine bedeutende Philosophin sei und wichtige Werke zur Intersubjektivität geschrieben habe, werde ihr Einfluss immer noch hinter Husserls Werken versteckt, das müsse sich ändern, so Lebech. Die Wissenschaftlerin hält fest: „Steins größte Motivation war es, die Wahrheit herauszufinden. Sich mit den Beiträgen von Frauen in der Philosophie zu beschäftigen, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.“
Weitere Informationen:
Das HWPS-Center hat zahlreiche Einträge zu Philosophinnen in einer Enzyklopädie zusammengestellt, dort finden sich auch Einträge zu Edith Stein: https://historyofwomenphilosophers.org/ecc/
Ein Video von Prof. Dr. Mette Lebech und Prof. Dr. Ruth Hagengruber gibt es unter: https://www.youtube.com/watch?v=DQV-TmN1nSc
Text: Jennifer Strube, Stabsstelle Presse und Kommunikation