Holocaust und Nationalsozialismus als Themen in der Grundschule: Interview mit Prof. Dr. Andrea Becher, Expertin für Sachunterrichtdidaktik
70 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus – Am 8. Mai 1945 endete mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht der Zweite Weltkrieg in Europa. Gedenktage wie dieser sind Anlass des Erinnerns und Auseinandersetzens, vor allem auch in Schulen: Die deutsche Kultusministerkonferenz hat das im Dezember 2014 noch einmal mit Empfehlungen zur Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung bekräftigt. Mit der Sachunterrichtsdidaktikerin Prof. Dr. Andrea Becher haben wir darüber gesprochen, wie schon die jüngsten Schülerinnen und Schüler sich mit Holocaust und Nationalsozialismus auseinandersetzen können.
Frau Becher, ist der Holocaust überhaupt schon ein Thema für den Sachunterricht in der Grundschule?
Auf jeden Fall. Kinder leben nicht in einer Parallelwelt. In unserer Gesellschaft ist die nationalsozialistische Vergangenheit Teil der Lebenswirklichkeit und Kinder werden damit konfrontiert, ob durch Familiengeschichten oder die Medien. Dadurch entwickeln sich ganz eigene Vorstellungen und natürlich auch Fragen, die durchaus in der Grundschule aufgegriffen werden sollten. Das ist heute unter Pädagogen unstrittig, während es noch in den 1990er Jahren einen sehr kontroversen Diskurs gab und das Thema in der Grundschule eher tabuisiert wurde.
Und wie lässt sich ein so bedrückendes Thema kindgerecht vermitteln?
In meiner Dissertation habe ich die Vorstellungen von Grundschulkindern über den Holocaust untersucht und festgestellt, dass es eine starke Dämonisierung Hitlers gibt. Das wird auch als „Hitlerzentrismus“ bezeichnet: Hitler gilt als personifiziertes Böses, der die alleinige Schuld trägt – alle anderen sind vor allem Opfer. Es ist wichtig, diese einseitige Vorstellung aufzubrechen und ein vielschichtigeres Bild der nationalsozialistischen Gesellschaft aufzuzeigen, in der es das ganze Spektrum an Personengruppen – Täter, Opfer, Helfer, Zuschauer usw. – mit unterschiedlichen Handlungs- und Denkoptionen gab. Am besten funktioniert das über die Auseinandersetzung mit individuellen Lebensgeschichten – idealerweise mit regionalem Bezug. So können Kinder durch einen Vergleich mit der eigenen Lebenswelt leichter Perspektiven übernehmen und sich einfühlen – z. B. in Situationen, in denen sich Menschen verstecken mussten.
Welche konkreten didaktischen Methoden empfehlen Sie Pädagogen/innen?
Grundsätzlich sollten Lehrerinnen und Lehrer keine Angst vor dem Thema haben. Es gibt immer mehr gute Materialien, zum Beispiel Bilderbücher oder Comics. Möglich sind auch Besuche von Gedenkstätten, die zunehmend Programme für Kinder anbieten. Am eindrücklichsten ist aber wie gesagt das Lernen an lokalen Biografien: In vielen Städten gibt es zum Beispiel Stolpersteine, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern und die ganze Bandbreite der Verfolgung zeigen. Jeder Name steht für eine Lebensgeschichte, die Schüler beispielsweise in einem Stadtrundgang erarbeiten können. Die Kinder bekommen konkrete Vorstellungen vom Schicksal eines Menschen, der in einer Straße gewohnt hat, die sie sogar kennen.
Haben Sie auch Empfehlungen für Eltern zum Umgang mit dem Thema?
Auch Eltern sollten das Thema nicht tabuisieren, sondern auf Fragen ihrer Kinder antworten. Wenn diese Interesse zeigen bzw. Fragen haben, können gemeinsam Gedenkorte aufgesucht werden. Eltern können sich auch an Kinder- und Jugendbibliotheken wenden, sich eine Literaturauswahl zusammenstellen lassen und anschließend mit ihren Kindern über das sprechen, was sie gemeinsam gelesen haben.
Andrea Becher ist Professorin für Sachunterrichtdidaktik – Lernbereich Gesellschaftswissenschaften – an der Universität Paderborn. Ihre aktuellen Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Kompetenzentwicklung im Elementar- und Primarbereich – insb. zum Historischen Denken –, Lernaufgaben, Erinnerungskultur mit Grundschulkindern, Holocaust Education im Sachunterricht.
Interview: Frauke Döll