Stu­die zu Miss­brauchs­fäl­len im Erz­bis­tum Pa­der­born – Ers­te Zwi­schen­bi­lan­zen lie­gen vor

 |  Forschung

Das Thema sexueller Missbrauch von Minderjährigen in der katholischen Kirche hat heftige Debatten ausgelöst. Wesentliche Fragen waren allerdings bislang offen. Vor diesem Hintergrund hat das Erzbistum Paderborn die Universität Paderborn bereits im vergangenen Jahr mit einer historischen Studie beauftragt. Prof. Dr. Nicole Priesching und Dr. des. Christine Hartig untersuchen seitdem die Machtbeziehungen und Strukturen, die sexuellen Missbrauch gefördert und Aufklärung verhindert haben. Nun liegen erste Ergebnisse vor. Sie zeigen: Sowohl Kirche als auch Gesellschaft haben systematisch weggesehen und Straftaten gebilligt oder hingenommen.

„In den Personalakten taucht das Thema sexueller Missbrauch manchmal selbst dann nicht auf, wenn das Generalvikariat Kenntnis von einem solchen Fall hatte. Relativ umfangreich sind die Akten bei den Fällen, in denen kirchliche Strafverfahren stattgefunden haben. Darin finden sich Informationen zu Opfern, Tatumständen und Wiederholungsgefahren“, erklärt Hartig. Laut der Wissenschaftlerin hat es in der Bundesrepublik nur wenige kirchliche Strafverfahren gegeben. „In der Zeit des Nationalsozialismus war das anders, da hat es eine hohe politische Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt von Klerikern gegeben. Eine Verurteilung vor einem weltlichen Gericht zog damals in etwa der Hälfte der Fälle ein kirchliches Strafverfahren nach sich. Das war dann in der Bundesrepublik nicht mehr so, da wurden vom Erzbistum Sanktionen eher auf dem Verwaltungsweg verhängt“, so Hartig weiter.

Bisher haben die Wissenschaftlerinnen 160 Beschuldigte im Zeitraum von 1941 bis 2002 für das Erzbistum Paderborn identifiziert. Im Zuge der Untersuchungen können sich noch weitere Hinweise ergeben. Zu den Betroffenen können sie keine Zahl nennen. Priesching: „Die Zahl der Beschuldigten gibt nicht einfach die Zahl der Betroffenen wieder, da ca. 43 Prozent mehrfach beschuldigt wurden. Und wir haben das Problem, dass die Betroffenen in den Personalakten oft nicht kenntlich gemacht sind. Man ist den Fällen auch nicht so nachgegangen, dass man versucht hätte, alle Opfer zu ermitteln. Da ist also noch viel stärker als bei den nicht erfassten Beschuldigten mit einer Dunkelziffer zu rechnen.“

Den Wissenschaftlerinnen zufolge fehlen in den kirchlichen und weltlichen Akten relevante Informationen. „Dass es oft nicht zur Strafverfolgung gekommen ist, lag nicht nur daran, dass es einen untätigen Erzbischof in Paderborn gab, sondern an vielen anderen Hürden, die überwunden werden mussten. Kinder haben oft gar nicht begriffen, was ihnen passiert ist. In vielen Familien wurde den Kindern nicht geglaubt. Wenn sie versucht haben, sich zu schützen und etwa nicht mehr zum Ministrantenunterricht gegangen sind, haben manche Eltern Druck ausgeübt, dass sie dorthin gehen. Wenn es doch einmal zu einer Strafanzeige gekommen ist, sind Familien oft an Ermittlungsbehörden geraten, die ihnen nicht geglaubt und den Kindern gedroht haben“, berichtet Hartig. Und weiter: „Zusammengefasst kann man sagen: Die fehlende Dokumentation des Erzbistums ist zwar wesentlich, weil das die Leitungsbehörde ist, aber es ist nicht die einzige Ebene, auf der das Benennen der Taten unterdrückt worden ist.“

„Manche Beschuldigte wurden aus der Gemeinde genommen und in solchen Einrichtungen eingesetzt, von denen man glaubte, dort könnten sie keinen Schaden anrichten. In diesen Einrichtungen gab es eine Kontaktperson, die Bescheid wusste“, so Priesching. Wie die beiden Historikerinnen herausgefunden haben, haben sich Gemeindemitglieder häufig für einen Kleriker eingesetzt, gegen den Vorwürfe bekannt geworden sind, in mindestens einem Fall sogar nach dessen Verurteilung.

Für die Kardinäle Jaeger und Degenhardt können die beiden feststellen, dass es eine Fürsorge für die Beschuldigten gegeben hat, teilweise auch schriftlich ausgedrücktes Mitgefühl, aber nicht gegenüber den Betroffenen. „Durch die Versetzungspolitik hat man in Kauf genommen, dass sich Dinge wiederholen, und genau das ist dann ja auch leider immer wieder passiert. In manchen Fällen hat es Vereinbarungen mit Staatsanwaltschaften gegeben, dass auf Bewährung verurteilte Täter nicht mehr in Gemeinden eingesetzt werden sollen, und dennoch ist das geschehen“, so Priesching weiter. Außerdem wurde durch Angehörige des Erzbistums Druck auf Betroffene und ihre Familien ausgeübt, keine Anzeige zu erstatten.

Hartig: „Es gab keinerlei Sensibilität für den Schaden, den die Kinder genommen haben. Nicht nur im Erzbistum, auch vor Gericht nicht. Bei Taten unterhalb der Vergewaltigung, die in der Regel mit einer Bewährungsstrafe geahndet wurden, gingen auch Gerichte davon aus, dass Kinder keinen Schaden genommen haben. Die Tat galt zwar als ungesetzlich, aber man dachte, es habe das Leben der Kinder nicht massiv beeinflusst. Das Leben eines Klerikers dagegen, der zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden ist, befand man als massiv beeinflusst, weil er in seiner Integrität infrage gestellt worden ist. Der Schaden wurde also beim Kleriker gesehen.“

Das auf insgesamt vier Jahre angelegte Projekt „Missbrauch im Erzbistum Paderborn – Eine kirchenhistorische Einordnung. Die Amtszeiten von Lorenz Jaeger und Johannes Joachim Degenhardt (1941-2002)“ ist im Februar des vergangenen Jahres gestartet. Die finalen Ergebnisse werden der Öffentlichkeit nach Ende der Studie in Buchform vorgestellt. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die von ihren Erfahrungen berichten möchten, können sich gerne per Mail an christine.hartig@uni-paderborn.de wenden.

Zu der Studie hat das Magazin „Der Dom“ ein Interview mit Prof. Dr. Nicole Priesching und Dr. des. Christine Hartig geführt: https://kw.uni-paderborn.de/fileadmin/fakultaet/Institute/kath-theologie/Kirchengeschichte_und_Religionsgeschichte/Missbrauchsstudie/Interview_Viele_haben_etwas_gewusst_Der_Dom_vom_01.12.2021.pdf

Foto (Universität Paderborn, Kamil Glabica)