"Da gewöhnt man sich nie dran": Der Paderborner Extremschwimmer André Wiersig im Interview
Den Ärmelkanal, Nordkanal und Kaiwi-Kanal hat er schon gepackt, im Sommer steht der Santa Catalina Kanal vor der Küste Los Angeles’ an. Der Paderborner André Wiersig ist seit seiner Kindheit im Wasser – sei es als Leistungsschwimmer oder Triathlet. Vor einigen Jahren ist aus seinem Sport ein Freizeitprogramm mit Extremen geworden: Wiersig durchschwimmt Meerengen, die sogenannten Ocean’s Seven. In einem Interview mit uns hat er von Begegnungen mit Walen, der mentalen Herausforderung „Ozean“ und seinem Studium an der Uni Paderborn erzählt.
Wann haben Sie entschieden, die Herausforderung der Ocean’s Seven anzunehmen?
Ich bin mit meiner Familie im Sommer oft auf Ibiza. 150 Meter vor dem Stand, an dem wir immer sind, liegt eine Boje im Meer. Mindestens einmal in jedem Urlaub schwimme ich zu dieser Boje, setze mich auf sie, schaue zum Strand und bin einfach 20 Minuten mit mir alleine. Irgendwann war ich mal mit einem Freund im Januar auf Ibiza, das war totaler Zufall. Ich hatte sogar Badesachen mit und habe überlegt, wieder zu der Boje zu schwimmen – bis ich meine Füße ins Wasser gehalten habe. Es war einfach zu kalt und ich bin nicht ins Wasser. Danach habe ich einen Pakt mit mir selbst geschlossen: Nach jedem Duschen wollte ich das Wasser kalt drehen und es mir 20 Sekunden über den Kopf laufen lassen – und das habe ich dann auch gemacht. Ein Jahr lang. Jedes Mal ist es mehr kaltes Wasser geworden. Den nächsten Winter bin ich dann tatsächlich auf Ibiza zur Boje geschwommen. Als ich wieder da saß und wie auf den Strand geschaut habe, habe ich beschlossen, den Ärmelkanal durchzuschwimmen.
Wie ist das Gefühl, im Ozean zu schwimmen und so viel Wasser und Meeresleben unter sich zu wissen? Kann man das überhaupt beschreiben?
Das ist wirklich sehr speziell – nachts nochmal spezieller. Da gewöhnt man sich nie dran – und jeder, der etwas anderes behauptet, lügt. Ich sage immer: Wenn man zum Beispiel einen Rocker, der von sich glaubt, dass er so ein richtig harter Typ ist, nehmen und ihn nachts 20 Kilometer vor der Küste im Wasser aussetzen würde, glauben Sie mir, er wollte zu seiner Mami auf den Schoß. Man muss für so ein Projekt schon viel Selbstvertrauen aufbauen und vor allem ein Bewusstsein für sich selbst schaffen.
Natürlich ist Ihr Hobby mehr anders als andere Freizeitbeschäftigungen mit Risiken verbunden. Welchen Gefahren sind Sie auf offener See bisher begegnet?
Ich bin immer wieder durch Quallen geschwommen und sah manchmal aus wie ein Sträfling auf einer Galeere. Einmal war ein Wal direkt unter mir, vielleicht ein Meter unter mir. Wenn ich mich auf Höhe dieser Tischplatte befand (Wiersig deutet auf den Tisch vor sich), war der Wal vielleicht hier beim dem Sockel. Jeder erzählt dir, wie lang so ein Wal ist, aber nicht wie breit er sein kann. Da ist mir erstmal die Situation bewusst geworden, in der ich in diesem Moment gesteckt habe. Diese Art des Schwimmens hat etwas Puristisches, man ist dem Meer ausgesetzt und irgendwie auch schutzlos.
Bei Ihrer Kanaldurchquerung vor Hawaii waren sie 18 ½ Stunden im Wasser. Wie fühlen sich nach so einer Distanz die ersten Schritte an Land an?
Das Ankommen ist wirklich schrecklich. Man will cool wirken, kann aber kaum gehen und ist aufgedunsen und weiß, dass man die nächsten Tage die Arme nicht mehr heben kann und sich beim Anziehen helfen lassen muss.
Was bringt Ihnen dieser Extremsport im Alltag?
Natürlich lassen sich die Eigenschaften, die man da trainiert, auch auf andere Dinge übertragen. Ich bin mental viel stärker geworden. Man baut Selbstvertrauen auf und lernt im Jetzt zu sein und irrationale Gedanken loszulassen – und auch Kontrolle abzugeben. Ich bin einmal fünf Stunden auf der Stelle geschwommen, weil mich die Wellen immer wieder zurückgeworfen haben. Der Schlüssel ist, in so einem Moment immer positiv zu bleiben und nicht auf den Ozean oder die Wellen zu schimpfen, weil sonst der Körper die Farbe der Gedanken annimmt. Man lernt, Dinge zu akzeptieren – und diese Erkenntnis ist mir echt schwer gefallen. Ich nehme mich auch nicht so fürchterlich ernst, weil ich immer denke: Den Ozean interessiert es nicht, ob ich da bin oder nicht.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie im Wasser sind? Kommen manchmal Erinnerungen hoch? Zum Beispiel an die Uni Paderborn?
Natürlich schweift man auch mal gedanklich ab, aber man muss sich immer wieder zurückholen und fokussiert bleiben. Im North Channel ist so ein Abschweifen zum Beispiel besonders gefährlich, weil das Wasser so kalt ist. Der Übergang zur Bewusstlosigkeit ist wirklich fließend und der Kopf beginnt, dir Streiche zu spielen. Aber im Training, wenn ich alleine mit mir und meinen Gedanken bin, denke ich schon auch mal an die Uni zurück, war ja eine schöne Zeit.
Sie haben von 1995 bis 1998 an der Uni Paderborn BWL studiert…
Genau, vorher habe ich eine Ausbildung gemacht und als Einkaufsassistent gearbeitet – mit richtig viel Verantwortung und auch schon ein bisschen Ansehen. Der Schritt an die Uni war heftig für mich, weil ich auf einmal nur noch eine Matrikelnummer war. Aber ich wollte unbedingt ins Ausland und bin deswegen mit dem Studium angefangen. Für mein Schwimmtraining bin ich häufiger in den USA gewesen – das hat mich infiziert. Mein Studium habe ich dann wie einen Job behandelt, bin zwischen den Vorlesungen nie nach Hause gegangen, habe immer an der Uni gelernt und gearbeitet. So habe ich keinen Schlendrian aufgekommen lassen.
Aber Sie haben Ihr Studium nicht beendet?
Nein, das war damals eine Entscheidung, die mir sehr schwer gefallen ist, weil ich in meinem Lebenslauf nie etwas angefangen und nicht zu Ende gebracht habe. Aber ich habe damals ein Praktikum gemacht, habe mich reingehängt und konnte bleiben. Das habe ich dann auch gemacht. Der Wunsch, zurück ins Berufsleben zu gehen, war zu groß – und meiner Karriere hat es auch nicht geschadet.
(Das Interview ist im März 2017 geführt worden.)