Jun.-Prof. Dr. Beate Flath über Kultur und Systemrelevanz in der Krisenzeit
Ein Sommer ohne große Konzerte und Festivals – noch vor ein paar Monaten kaum vorstellbar. Aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus ist das nun allerdings die Realität. Bis mindestens zum 31. August dürfen in Deutschland keine Großveranstaltungen stattfinden. Für die Kulturbranche ist das jedoch existentiell. Beate Flath, Juniorprofessorin für Eventmanagement Populäre Musik, Medien und Sport an der Universität Paderborn, über eine pandemiebedingte Kulturkrise, die weit über die Kultur hinausgeht.
Rund 80.000 Veranstaltungen sollen bis Ende Mai abgesagt werden. Das geht aus einem Bericht der Verbände der deutschen Musikwirtschaft hervor, der Ende März erschienen ist. Zahlen wie diese bieten derzeit jedoch nur eine grobe Orientierung. „Grundsätzlich sind die finanziellen Auswirkungen der Corona-Krise auf den Livemusik-Markt in ihrem gesamten Ausmaß, das heißt auch über 2020 hinaus, aktuell noch nicht bezifferbar“, merkt Flath an. Das gelte ebenso für die Schätzungen der Bundesregierung, die für dieses Jahr Verluste zwischen 9,5 (mildes Szenario) und 28 Milliarden Euro (gravierendes Szenario) in der Kultur- und Kreativwirtschaft erwartet. Neben den unmittelbar betroffenen Akteur*innen, zu denen u. a. Musiker*innen, Manager*innen, Veranstalter*innen und Veranstaltungstechniker*innen zählen, würden laut Flath etwa auch Verlage, Reiseveranstalter, Verkehrsbetriebe, Werbefachleute sowie Gastronomie- und Tourismusbetriebe sehr stark unter den Auswirkungen der Pandemie leiden. „Letztendlich sind aber natürlich auch die Besucher stark betroffen, da ein großer Teil des Kulturangebots nicht genutzt werden kann. Vor dem Hintergrund, dass Kulturveranstaltungen eine enorme gesellschaftliche Bedeutung haben, sind daher aus meiner Sicht die negativen monetären Auswirkungen der Pandemie im Kontext der gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen auf alle Bürger zu sehen“, gibt die Wissenschaftlerin zu bedenken.
Gutscheine helfen nicht entscheidend weiter
Somit nehmen auch Besucher*innen eine nicht unwesentliche Rolle ein, wenn es für die Kulturbranche darum geht, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Flath: „Zukünftige Besucher werden als Nachfrager wesentlich zur Situation des Veranstaltungsmarktes in der Zeit nach den Beschränkungen beitragen. Das ist dann natürlich auch von ihrer wirtschaftlichen Situation abhängig.“ Bis es so weit kommt, müsste es laut der Wissenschaftlerin jedoch grundsätzlich längerfristige Unterstützungen und Strategien geben, um alternative Formate zu etablieren. Die bereits kontrovers diskutierte Gutschein-Lösung hält sie dagegen für nicht zielführend: „Aus meiner Sicht würden ausschließlich gestaffelte und nach klaren Kriterien vergebene finanzielle Hilfen von Bund und Ländern Planungssicherheit geben. Diese sollten dann auch variabel einsetzbar und nicht rückzahlungspflichtig sein. Konsumenten könnten hingegen einen Beitrag leisten, wenn sie sich den Kaufpreis für bereits erworbene Tickets nicht rückerstatten lassen oder beispielsweise Soli- oder Spenden-Tickets kaufen.“
Geringe Einnahmen trotz hoher Umsätze
Wie viele Menschen direkt oder indirekt von den aktuellen Ausfällen betroffen sein könnten, zeigen Zahlen aus der Vergangenheit: „In einer Studie fanden Forscher heraus, dass 2019 in Deutschland etwa 5,3 Millionen Menschen regelmäßig und 42,8 Millionen Menschen gelegentlich Konzerte und Musikveranstaltungen besuchen. Aus Statistiken, die mitunter der Bundesverband Musikindustrie veröffentlicht, wissen wir zudem, dass der Jahresumsatz des Livemusik-Marktes in Deutschland 2019 bei knapp über zwei Milliarden Euro lag. Diese Zahl beinhaltet die Einnahmen aus Ticketverkäufen und Sponsoringeinnahmen, die rund ein Fünftel der Einnahmen darstellen“, erklärt Flath. So hoch die Umsätze auch sein mögen, die Wissenschaftlerin weist im selben Zug auf die geringen Einnahmen hin, von denen viele Protagonist*innen in dieser Branche leben: „In Deutschland betrug das durchschnittliche Bruttojahreseinkommen von freiberuflichen, in der Künstlersozialkasse versicherten Sängerinnen und Sängern im vergangenen Jahr je nach Musikrichtung zwischen 12.000 und 16.000 Euro. Das liegt deutlich unter dem vom Statistischen Bundesamt angegebenen durchschnittlichen Bruttolohn in Deutschland, der 2018 bei etwa 36.000 Euro lag.“
Kultur kein nettes „Add-on“
Trotz finanzieller Schwierigkeiten, beweisen Musiker*innen bereits viel Kreativität, Mut und Zuversicht, um neue Formate zu entwickeln und Kolleg*innen solidarisch zu unterstützen, wie die Paderborner Wissenschaftlerin feststellt. Gleichzeitig fordert sie die Protagonist*innen dazu auf, aktiv auf sich aufmerksam zu machen: „Aus meiner Sicht sind zum jetzigen Zeitpunkt vor allem die Interessens- und Dachverbände gefragt, die aktuell viel Lobbyarbeit leisten und leider immer und immer wieder politisch Verantwortliche davon überzeugen müssen, dass Kunst, Kultur, Musik kein nettes „Add-on“ sind, sondern – gerade in Krisenzeiten – elementar. Musikerinnen und Musiker würde ich dazu ermutigen, ihre Interessensverbände zu stärken, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren und zu organisieren, Druck zu machen und nicht zuletzt, sich gut über Unterstützungen und Förderungen zu informieren und diese auch zu nutzen.“
Quo vadis, Kultur?
Seit Ausbruch der Pandemie führen Expert*innen Diskussionen über Bereiche, auf die im gesellschaftlichen Leben zunächst verzichtet werden kann. Dabei wird dem Stellenwert von Kultur nach Ansicht von Flath nicht erst seit der aktuellen Krise eine zu geringe Bedeutung beigemessen: „Kunst, Kultur, Musik stiften Lebenssinn. Sie sind ein Gegenüber für produktive Reibung. Sie sind eine Art Spiegel und ermöglichen es, sich zu Gesellschaft, Gemeinschaft und sich selbst in Beziehung zu setzen. Die Corona-Krise zeigt uns auch, welche ganz grundsätzlichen Fragen an uns gerichtet werden: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir wirtschaften? Welche Vorstellungen von Arbeit haben wir? Es wäre an der Zeit, diese Fragen abseits ideologischer Grabenkämpfe zu diskutieren und diese Krise sowie auch die im öffentlichen Diskurs beinahe „vergessene“, aber mit Kunst, Kultur und Musik eng verwobene, Klimakrise ehrlich zu diskutieren. Dann würde sich auch nicht die absurde Frage stellen, ob Kunst, Kultur und Musik systemrelevant sind – selbstverständlich sind sie das!“