„Un­se­re frei­heit­lich-de­mo­kra­ti­sche Grund­ord­nung ist kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit“

Interview zu 75 Jahren Stauffenberg-Attentat mit Neuzeithistoriker Prof. Dr. Peter Fäßler

Am 20. Juli jährt sich das Attentat Claus Schenk Graf von Stauffenbergs auf Diktator Adolf Hitler zum 75. Mal. Prof. Dr. Peter Fäßler vom Historischen Institut der Universität Paderborn spricht im Interview über die Motive der Widerstandsgruppe um Stauffenberg, deren Pläne für Deutschland nach dem Nationalsozialismus, die Erinnerungskultur nach 1945 und den heutigen Umgang mit Rechtsradikalen.

Herr Fäßler, die Widerstandsgruppe um den Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg umfasste hochrangige Militärs, Polizisten und Staatsbedienstete. Diese Personen trugen die NS-Diktatur lange teils überzeugt mit und waren direkt oder indirekt an ihren Verbrechen beteiligt. Stauffenberg etwa war als Soldat und Generalstabsoffizier der Wehrmacht an den Überfällen auf Polen und Frankreich beteiligt. Warum entschlossen er und seine Mitstreiter sich, das NS-Regime zu stürzen?

Die Motive für einen Staatsstreich, der ein Attentat auf den „Führer“ Adolf Hitler vorsah, waren vielfältiger Natur. Das Spektrum reicht von politisch-militärischen Einsichten bis hin zu moralischen Erwägungen. Angesichts der zahlreichen Widerstandsakteure und ihrer individuellen Überzeugungen ist diese komplexe Motivlage nicht überraschend.

Seit vielen Jahren diskutiert die historische Forschung kontrovers über die Schlüsselfigur des militärischen Widerstandes, Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die kürzlich erschienene Biographie von Thomas Karlauf betont im Gegensatz zu älteren Studien, dass Stauffenberg recht lange das NS-Regime, dessen politisch-militärische Ziele und die verbrecherischen Handlungen in Polen und der Sowjetunion mitgetragen oder zumindest stillschweigend toleriert habe. Erst unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Niederlage des Deutschen Reiches habe Stauffenberg 1943 den Entschluss gefasst, Hitler und die NS-Diktatur zu stürzen. Karlaufs pointierte Sichtweise kritisieren etliche Kollegen mit guten Argumenten. Aufgrund der dünnen Quellenüberlieferung dürfte die Frage nach Stauffenbergs Motiven aber kaum eindeutig zu klären sein.

Welche Pläne hatte die Stauffenberg-Gruppe für ein Deutschland nach Hitler?

Für die Zeit nach der nationalsozialistischen Diktatur lag kein Verfassungskonzept vor, auf das sich alle Mitglieder des Widerstandes um Stauffenberg geeinigt hätten. Auch hier diskutierten die Beteiligten unterschiedliche Vorstellungen, die von der Monarchie über autoritär-elitäre Ordnungen bis hin zur liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts reichten. Selbst sozialistische Verfassungsanleihen standen zur Debatte. Stauffenberg selbst ging für die Übergangszeit von der Notwendigkeit einer Militärdiktatur aus, was durchaus pragmatisch und realistisch gedacht war.

Wenn es Stauffenberg gelungen wäre, den Diktator mit seinem Sprengsatz zu töten: Hätte das NS-Regime dann wirklich gestürzt werden können?

Der Staatsstreichplan „Walküre“ sah ja nicht nur die Tötung Adolf Hitlers vor, sondern auch, die Machtzentren bzw. Führungspersonen von SS, Sicherheitsdienst (SD), Gestapo und NSDAP durch die Wehrmacht auszuschalten. Das erscheint als ein durchaus plausibles Szenario – und in diesem Fall wäre das Regime vermutlich beseitigt worden. Aber es darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um eine kontrafaktische Überlegung handelt und damit naturgemäß eine Spekulation bleibt.

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus war sehr heterogen. Wer leistete Widerstand und welche Formen des Widerstands gab es?

Zahlreiche Personen, Gruppen und Organisationen aus nahezu allen Teilen der Gesellschaft leisteten Widerstand gegen das NS-Regime. Einzelne wie Georg Elser sind ebenso zu nennen wie kirchliche Vertreter beider großer Konfessionen, der kommunistische und sozialdemokratische Untergrund oder eben konservative und militärische Kreise. Einer breiteren Öffentlichkeit ist heute noch die „Weiße Rose“ bekannt. Schließlich dürfen auch die Aktionen jüdischer Mitbürger gegen das NS-Regime nicht vergessen werden.

Allgemein reichten die Widerstandshandlungen von abweichendem Verhalten – man denke an die Swing-Jugend – über öffentliche Stellungnahmen, wie z. B. die Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, bis hin zur aktiven Gewaltanwendung in Form von Sabotageakten oder Attentaten.

Erinnerungskultur nach 1945: Wie wurde den deutschen Widerstandskämpfern im geteilten Deutschland gedacht?

Die Erinnerungskulturen in der sozialistischen DDR und der demokratischen Bundesrepublik wichen erheblich voneinander ab. Standen in der DDR vor allem die Akteure des kommunistischen Widerstandes im Zentrum der staatlich verordneten Erinnerung, waren dies im Westen eher bürgerlich-konservative, kirchliche oder eben militärische Kreise.

Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es der bundesdeutschen Gesellschaft schwerfiel, insbesondere den militärischen Widerstand um Stauffenberg angemessen zu würdigen. Lange haftete ihm das Stigma des „Verrats“ an und erst in den 1980er Jahren erkannte eine Mehrheit der Westdeutschen in Stauffenberg und seinen Mitstreitern Vorbilder.

Es gibt die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ in Berlin, in der an die unterschiedlichen Widerstandsgruppen erinnert wird, und Gedenkorte für einzelne Gruppen und Personen, etwa für die „Weiße Rose“ und Georg Elser in München. Ein zentrales Denkmal für alle Widerständler fehlt aber. Wäre es rund 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung nicht Zeit dafür – auch, um der zahlreichen unbekannten Widerstandskämpfer angemessen zu gedenken?

Neben den Gedenkorten und Gedenkstätten in allen Teilen der Bundesrepublik ist eine zentrale Gedenkstätte für den Widerstand gegen das NS-Regime sinnvoll. Die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ in Berlin erhebt meines Wissens diesen Anspruch und wird ihm durchaus gerecht. Natürlich lässt sich immer über Entwicklungen, Änderungen und Akzentverschiebungen diskutieren, aber derzeit sehe ich keinen allzu dringenden Handlungsbedarf.

Mit der sogenannten „Alternative für Deutschland“ sitzt eine Partei im Deutschen Bundestag und in allen Landtagen, die in Teilen als rechtsradikal eingestuft werden kann und offen Kontakte ins rechtsradikale Milieu pflegt. Anfang Juni wurde mit dem hessischen CDU-Landtagsabgeordneten und Regierungspräsidenten Walter Lübcke erstmals in der Bundesrepublik ein hoher Staatsbeamter mutmaßlich von einem Rechtsextremen ermordet. Dazu flogen in den Reihen von Bundeswehr und Polizei zuletzt immer wieder Rechtsradikale auf. Wie können wir heute Nazis und ihrem Gedankengut wirkungsvoll entgegentreten?

Die große Resonanz rechtspopulistischer Gedanken und die Erfolge der AfD lehren vor allem eines: Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist keine Selbstverständlichkeit und kein Selbstläufer. Deshalb müssen wir uns immer wieder ihrer Vorzüge und Werte bewusstwerden. Wir müssen aber auch offen über mögliche Schwächen und Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung von Demokratie in alltägliches Handeln streiten. Diese Auseinandersetzungen sind unbequem, sie gehen zwangsläufig an die Grenzen dessen, was manch einer von uns akzeptabel empfindet. Aber letztlich führt kein Weg an einer klaren und harten Debatte vorbei. Wir brauchen eine demokratische Streitkultur in der ganzen Gesellschaft: in Kindergärten und Schulen, in Unternehmen und Verbänden, bei Polizei und Bundeswehr, in Kirchen – überall. Und machen wir uns nichts vor: das kostet Geld, viel Geld für politische Bildung. Um eines aber ganz deutlich zu sagen: Dort, wo die Grenzen des Grundgesetzes überschritten werden, endet jedes Streitgespräch und der Rechtsstaat muss mit seinen Mitteln konsequent eingreifen!

Interview: Simon Ratmann, Stabsstelle Presse und Kommunikation

Fotos und Montage (Simon Ratmann): Blick in den Innenhof des Bendlerblocks in Berlin mit einem Mahnmal. Hier wurden Stauffenberg und drei seiner Mitstreiter in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1944 erschossen. An die vier Widerstandskämpfer und den ebenfalls zur Stauffenberg-Gruppe gehörenden Generaloberst Ludwig Beck, der kurz zuvor ermordet worden war, erinnert seit 1962 namentlich eine Gedenktafel.
Foto (Luca Geselle): Prof. Dr. Peter Fäßler lehrt und forscht seit 2009 an der Universität Paderborn.

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