Os­cars 2019: „Die Ki­n­okul­tur in Deut­sch­land hinkt an­de­ren eu­ro­pä­i­schen Län­dern hin­ter­her“

Am 24. Februar blickt die Welt wieder gespannt nach Hollywood: Zum 91. Mal werden die Oscars verliehen. Filmwissenschaftlerin Prof. Dr. Annette Brauerhoch spricht im Interview über das internationale Standing des deutschen Films, den aktuellen Erfolg mexikanischer Filmschaffender und das erneute Fehlen von Regisseurinnen auf der Nominiertenliste für die „Beste Regie“.

Frau Brauerhoch, wie beurteilen Sie das derzeitige Niveau des internationalen Films?

Brauerhoch: Um einen Eindruck vom internationalen Film zu bekommen, ist man mittlerweile auf Festivalbesuche angewiesen, wie z. B. die „Berlinale“, aber auch auf zum Teil spezialisierte Filmfestivals. Davon gibt es alleine in Deutschland Dutzende, wie die „Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen“, die Dokumentarfilmfestivals in Leipzig und Duisburg, das „Lichter Filmfest“ und „Nippon Connection“ in Frankfurt, „GoEast“ und „Exground“ in Wiesbaden und viele andere mehr. In die großen kommerziellen Kinos kommen die wenigsten Filme und was wir dort zu sehen bekommen ist diktiert von Verleihstrukturen – da haben die Kinos kaum Spielraum für eigene Entscheidungen oder Programmgestaltung. Eine Alternative bieten Programmkinos, aber viele Städte, darunter Paderborn, haben leider keines. Die Frage lässt sich also nicht adäquat beantworten, da vom internationalen Filmschaffen sehr wenig in unseren Kinos vertreten ist. Filme aus Japan, Korea, China, den Philippinen oder aus dem Iran, der Türkei und Russland, um nur ein paar wenige Länder zu nennen, sind z. B. in Cannes gut vertreten. Für eine Kinoauswertung verlassen sich die Verleiher allerdings nach wie vor lieber auf Hollywood bzw. ist die Macht der Verleiher für Hollywood-Filme besonders groß. Es geht also weniger um Niveau, sondern mehr um Macht und Ohnmachtstrukturen.

Der Film „Roma“ des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón gilt als einer der Oscar-Favoriten. Cuarón ist in der Kategorie „Beste Regie“ nominiert, Yalitza Aparicio und Marina de Tavira, zwei Schauspielerinnen des Films, in den Kategorien „Beste Haupt- und Nebendarstellerin“. 2014, 2015, 2016 und 2018 erhielt ein Mexikaner den Oscar für „Beste Regie“. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg mexikanischer Filmschaffender?

Brauerhoch: In Zeiten der Migration ist dies tatsächlich aussagekräftig für eine Branche, die auf ein Gespür für die Sensibilitäten ihres Publikums angewiesen ist. Lateinamerikaner bilden in den USA die zweitgrößte ethnische Gruppe, fast 65 Prozent davon sind Mexikaner. Die Auszeichnungen und Nominierungen sprechen aber auch für die verbindende und produktive Kraft geteilter und gemeinsamer kultureller Erfahrungen: Die drei Oscar-prämierten Regisseure Alfonso Cuarón, Alejandro González Iñárritu und Guillermo del Toro sind miteinander befreundet, sie unterstützen sich gegenseitig. Das Aufweichen der „weißen Oscars“ haben zudem die schwarzen US-Amerikaner vorangetrieben – denken Sie an die berühmte Ansprache von Chris Rock als Moderator der Academy Awards 2016. Yalitza Aparicio ist die erste indigene Mexikanerin, die für den Preis als beste Hauptdarstellerin nominiert ist. Salma Hayek, die 2002 für „Frida“ nominiert wurde, ist Mexikanerin und US-Amerikanerin, sie selbst beschreibt sich als halb spanisch, halb libanesisch.

Die Nominierung von „Roma“ kann man als Ausdruck einer Form von versuchter „political correctness“ sehen und als Ehrfurcht vor der Inszenierung des Films in schwarz-weiß, was sofort einen gewissen Automatismus auslöst, darin „Kunst“ zu sehen. Gemessen an anderen Oscar-Nominierungen wie beispielsweise „A Star is born“ hat er aber wirklich eindrucksvolle ästhetische Qualitäten, die allerdings eigentlich die große Leinwand brauchen, um angemessen gewürdigt werden zu können. Mit „Roma“ wird ja ein Film nominiert, der als Netflix-Produktion kaum eine Kinoauswertung erfährt und die Debatte über das Verhältnis von Streaming-Angeboten und Kinowahrnehmung weiter befeuert.

In den Königsdisziplinen „Beste Regie“ und „Beste Kamera“ sind wieder einmal ausschließlich Männer nominiert. Was sagt das über das derzeitige Filmbusiness aus?

Brauerhoch: Es ist ein klares Armutszeugnis. Auf einer alternativen Oscarliste (https://www.dazeddigital.com/film-tv/article/43019/1/oscars-nominations-women-directors-snubbed) werden so wichtige Namen und wunderbare, interessante Filme wie Debra Graniks „Leave no Trace“, Lynne Ramsays „You Were Never Really Here“ oder Claire Denis „Let the Sunshine In“ genannt. Ich befürchte, dass „I Am Not a Witch“ von Rungano Nyoni, der z.B. auf dem „Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund/Köln“ lief, sowie „Madeline’s Madeline“ von Josephine Decker, „Private Life“ von Tamara Jenkins, „The Miseducation of Cameron Post“ von Desiree Akhavan, „Nancy“ von Christina Choe und „Oh, Lucy!“ von Atsuko Hirayanagi eher unbekannt und ungesehen bleiben werden. 2010 war Kathryn Bigelow in der Geschichte der Academy Awards die erste Frau, die einen Oscar für die beste Regie bekam. Eine schwarze Regisseurin wurde noch nie nominiert. Die 91. Oscars werden die 86. sein, die ohne weibliche Nominierung für „Beste Regie“ auskommen.

Florian Henckel von Donnersmarck ist mit seinem Film „Werk ohne Autor“ in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert. Davon abgesehen: Wie steht der deutsche Film aktuell im internationalen Vergleich da?

Brauerhoch: Der deutsche Film hat durch den Nationalsozialismus einen so heftigen Einbruch erfahren, dass die deutsche Filmgeschichte und ihr „Versagen“, milder ausgedrückt ihre Eigenheit, nicht ohne diesen Einschnitt zu denken ist. Hinzu kommt ein höchst komplexes und kompliziertes Filmförderverfahren und -abkommen, an das die Filme – unter Vernachlässigung des Publikums – angepasst werden. Das radikale Abwerten von Film als „Unterhaltung“ gegenüber einer sogenannten „ernsten Kultur“ gibt es in anderen europäischen Ländern nicht, die ihre Cinematografien und Filmbildung stärker fördern und pflegen, allen voran Frankreich, aber auch Italien, Polen und andere osteuropäische Länder. Die Kinokultur, auch gemessen an Kinobesuchen, hinkt in Deutschland anderen europäischen Ländern hinterher, für die Kino selbstverständlich die große Kunstform des 20. Jahrhunderts ist.

Wie lautet Ihr persönlicher Filmtipp?

Brauerhoch: Mehr ins Kino gehen.

Interview: Simon Ratmann, Stabsstelle Presse und Kommunikation

Foto (Universität Paderborn, Simon Ratmann): Prof. Dr. Annette Brauerhoch im Filmraum der Universität Paderborn.

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Prof. Dr. Annette Brauerhoch

Film- und Fernsehwissenschaft (bis 2022)