Interview mit Prof. Dr. Ruth Hagengruber
Prof. Dr. Ruth Hagengruber ist Leiterin des Fachs Philosophie an der Universität Paderborn. Im Interview erklärt sie, welche Schnittstellen von Philosophie und humanitärer Hilfe es gibt und wie diese zusammenhängen.
Frau Hagengruber, ist humanitäre Hilfe überhaupt ein philosophisches Thema?
Ungerechtigkeiten abzuhelfen ist wohl eine der Pflichten, die schon früh von der Philosophie definiert wurden. Humanitäre Hilfe ist daher ganz sicher ein philosophisches Thema. Dennoch ist und bleibt die Frage, was und in welchem Umfang wir Menschen helfen sollen, die vor Gewalt fliehen, die Bedrohungen ausgesetzt sind oder die in großer Armut leben. Die philosophische Aufgabe ist es hierbei, die Gründe dafür anzugeben, weshalb überhaupt geholfen werden soll, ob es eine solche Verpflichtung zur Hilfe gibt und von wem diese verlangt werden kann – ob vom Einzelnen oder von Institutionen, ob in gewissen Fällen oder immer.
Die Achtung des Menschenrechts ist der Grund der Verpflichtung zur humanitären Hilfe. Dieses Menschenrecht wurde aus ganz verschiedenen Quellen begründet. Schon die Römer leiteten ein solches Recht aus der Natur ab. Kant spricht jedem Menschen dieses Recht zu, doch können Menschen dieses Recht verwirken. Dass grundsätzlich jedem dieses Recht zukommt, steht heute weitgehend außer Frage und wurde auch praktisch von fast allen Ländern anerkannt.
Gibt es ethische Konflikte z. B. bei der gerechten Verteilung von Hilfsgütern?
Ethische Konflikte hinsichtlich der gerechten Verteilung von Hilfsgütern stellen ein großes Gebiet der philosophischen Debatte dar. Die Fragen nach den Kriterien der gerechten Verteilung hängen von vielen Faktoren ab. Der Philosoph Peter Singer schlägt in seinem Buch Praktische Ethik vor, dass die Wohlhabenden verpflichtet sind, die weniger Wohlhabenden an ihrem Wohlstand teilhaben zu lassen. Er schlägt vor, sie sollen zehn Prozent ihres Einkommens geben, was er selbst übrigens für sich umsetzt. Andere schlagen vor, dass ein Prozent des globalen Einkommens ausreichen würde, die Weltarmut abzuschaffen. Es gibt verschiedene Vorschläge, zu welcher Hilfe Menschen verpflichtet werden können. Zuerst spielt das Verursacherprinzip eine wichtige Rolle. Zur Hilfeleistung sind demnach jene zu verpflichten, die diese Schäden zu verantworten haben. Wie weit diese Regeln im Falle von Krieg, Flucht und Vertreibung anzuwenden sind oder angewendet werden können, ist fraglich, kann aber nicht unberücksichtigt bleiben.
Ist humanitäre Hilfe wichtig für eine Gesellschaft?
Eine wichtige Debatte besteht vor allem darin, ob der einzelne Mensch eine Pflicht hat zu helfen oder ob solche Hilfe durch Institutionen gegeben werden muss, da der Einzelne weder effektiv noch in relevanter Weise etwas zur Abschaffung oder Linderung der Not beitragen könne.
Immer kann nur der Einzelne moralisch verpflichtet werden, nicht eine Institution. Dennoch ist die institutionelle Koordination nicht unwesentlich, weil damit das Handeln der Einzelnen wirksamer werden kann. Doch wirft diese institutionalisierte Form der Hilfe die weitere Frage auf, wie diese Beiträge der Einzelnen gerecht zu beurteilen sind. Hier zeigt sich, wie sich eine Gesellschaft in Bezug auf die Unterstützung Notleidender selbst definiert. Daher ist humanitäre Hilfe gleich aus verschiedenen Gründen wichtig für eine Gesellschaft.
Gibt es Verpflichtungen für die Menschen aus philosophischer Perspektive?
Eine Pflicht im philosophisch strengen Sinn bedeutet aber, dass wir gar nicht wählen können, ob wir helfen oder nicht. Zwar ist auch Wohltätigkeit eine Pflicht, doch nicht in diesem kategorischen Sinn. Es ist in diesem Sinne als philosophische Verpflichtung anzusehen, Menschen beizustehen, deren Leben bedroht ist.
Die Fragen stellte Nina Reckendorf.