Interview mit Prof. Dr. Peter Fäßler vom Historischen Institut
Am Abend des 9. November 1989 kündigte Günter Schabowski, Sekretär für Informationswesen der SED, auf einer Pressekonferenz in Berlin eine neue Reiseregelung für DDR-Bürger an: freie Reisen ins Ausland – auch ins westliche. Auf Nachfragen, wann diese Regelung in Kraft trete, folgte die berühmte stockende Antwort „Das trifft … nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Kurz darauf strömten tausende Ostdeutsche zu den Grenzübergangsstellen. Eine nach der anderen wurde geöffnet. Die Berliner Mauer und die deutsche Teilung waren Geschichte. Im Interview analysiert Prof. Dr. Peter Fäßler vom Historischen Institut der Universität Paderborn den Prozess der Wiedervereinigung, dessen Folgewirkungen und blickt auf das heutige Verhältnis von West- und Ostdeutschen.
Herr Fäßler, bis zum Mauerfall wurden die Verbrechen und Gewalterfahrungen der NS-Diktatur in Ostdeutschland nicht systematisch aufgearbeitet. Einige NS-Täter machten sogar in Armee, Polizei und bei der Stasi weiter Karriere. Auf die Nazi-Diktatur folgte die psychische, physische und strukturelle Gewalt der SED-Diktatur. Welche gesellschaftlichen Folgen hatte das?
Peter Fäßler: Die politischen Einstellungen und die politische Kultur in den ostdeutschen Bundesländern weisen einige erkennbare Unterschiede zu denen im Westen der Republik auf: Hierzu zählen unter anderem eine geringere Parteienbindung der Wählerinnen und Wähler, eine größere Skepsis gegenüber Medien, andere Erwartungshaltungen an den Staat sowie eine ausgeprägtere Zurückhaltung bei politischem Engagement. Es scheint durchaus plausibel, solche Unterschiede nicht nur, aber auch mit der politischen Sozialisation in der DDR in Verbindung zu bringen.
Nach dem Zusammenbruch der DDR wurden tausende staatliche Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe geschlossen, Millionen Arbeitsplätze gingen verloren. Männer und Frauen, die immer gearbeitet hatten, wurden zu Bittstellern. Gefühle von Demütigung, einer neuen Form staatlicher Willkür und fehlendem Respekt vor der eigenen Lebensleistung stellten sich ein. Inwiefern prägt das noch heute die Gesellschaften in den ostdeutschen Bundesländern?
Fäßler: In der Tat boten die 1990er Jahre den Ostdeutschen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren eine Menge Anlass zu Frustration. Viele erlebten eine unverschuldete Entwertung ihrer Berufsbiographien, verloren den qualifizierten Job und – schlimmer noch – sahen keine sinnvolle Perspektive. Wenn in einer solchen Situation die ostdeutschen Führungspositionen in Politik, Wirtschaft, Justiz, Verwaltung oder auch Wissenschaft nahezu ausschließlich von Westdeutschen besetzt werden – was der Fall war – dann schlägt die Frustration in tiefe Verbitterung um. Die vergleichsweise gedrückte, ja schlechte öffentliche Stimmung verschärfte sich zusätzlich, weil jüngere, qualifizierte Personen in großer Zahl in den Westen zogen.
Warum gelang es nach dem Mauerfall nicht, mehr DDR-Betriebe und Industriearbeitsplätze zu erhalten?
Fäßler: Die Gründe für den massenhaften Zusammenbruch ostdeutscher Betriebe liegen auf der Hand: mangelnde nationale wie internationale Wettbewerbsfähigkeit sowie wegbrechende Exportmärkte in Osteuropa. Für beide Faktoren lassen sich zahlreiche weitere Ursachen benennen. Ich will nur eine hervorheben: die rasche Herbeiführung der Währungsunion zum 1. Juli 1990 mit einem Umtauschkurs von 1:1 der Löhne und Gehälter mag politisch geboten gewesen sein, betriebswirtschaftlich aber bedeutete sie das Aus zahlreicher ostdeutscher Unternehmen.
Ob ein DDR-Betrieb überlebte oder nicht, entschied nach dem Grundsatz „privatisieren und sanieren oder stilllegen“ wesentlich die Treuhandanstalt mit, eine in der Spätphase der DDR gegründete Anstalt des öffentlichen Rechts. Wie beurteilen Sie deren Rolle?
Fäßler: Die Rolle der Treuhandanstalt wurde und wird sehr konträr beurteilt. Kürzlich legte Marcus Böick von der Ruhr-Universität Bochum eine erste historisch fundierte Untersuchung vor, für die er umfassend die Quellenüberlieferung der Treuhand auswertete. Seine Kernaussage: Die Treuhand hat bei den über 8.000 Privatisierungen binnen weniger Jahre viele Fehler gemacht, aber auch viele richtige Entscheidungen getroffen. Das heißt, man wird auch in Zukunft nicht umhinkommen, die wichtigeren Privatisierungen einer Einzelfallprüfung und -bewertung zu unterziehen.
Gingen nach dem Mauerfall aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage noch Hunderttausende aus Ostdeutschland weg, hat sich der Abwanderungstrend mittlerweile umgekehrt: 2017 zogen erstmals wieder mehr Menschen von West nach Ost als andersherum. Die Einwohnerzahlen einiger Großstädte gehen wieder nach oben. Demgegenüber bluten viele ländliche Gegenden aus. Das Stadt-Land-Gefälle – auch in Westdeutschland bekannt. Welches Konfliktpotential sehen Sie hier und wie kann dem begegnet werden?
Fäßler: Letztlich handelt es sich hierbei um einen in allen Industriestaaten zu beobachtenden Trend. Im Falle Ostdeutschlands fällt er – historisch bedingt – besonders dramatisch aus. Das größte Konfliktpotential sehe ich im gesellschaftspolitischen Bereich. Die wachsende Kluft zwischen „Metropole“ und „Provinz“ setzt die demokratische Kultur erheblichen Spannungen aus. In gewissem Maße können Kommunen, Länder und der Bund dagegen steuern, etwa durch Investitionen bei der Infrastruktur, durch die Vergabe von zentralen Behörden in die östlichen Bundesländer oder ähnliches. Letztlich aber wird sich der Trend auf absehbare Zeit nicht umkehren lassen.
Aus Ihrer persönlichen Erfahrung: Wie wiedervereint ist Deutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall bereits?
Fäßler: Ich glaube schon, dass die innere Einheit der bundesdeutschen Gesellschaft bezogen auf die Ost-West-Relation gut vorangekommen ist. Gleichwohl beunruhigen mich wechselseitige Vorbehalte und Fremdheit. Auch dürfen die Beharrungskräfte in der Alltagskultur, in mentalen Dispositionen und politischen Einstellungen nicht unterschätzt werden. Und auf einige berechtigte Kritikpunkte aus ostdeutschen Kreisen gilt es rasch zu reagieren. So sollte der Bund die zugesicherte Verlagerung von Bundesbehörden nach Ostdeutschland umsetzen. Außerdem ist nicht einzusehen, dass dort bis heute im öffentlichen Dienst die Führungspositionen weit überproportional mit Westdeutschen besetzt sind beziehungsweise werden. Hier sehe ich etliche Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, um den in Teilen berechtigten Unmut zu mindern.
Interview: Simon Ratmann, Stabsstelle Presse und Kommunikation