Die Chancengleichheit im Bildungssystem stand im Vordergrund einer Podiumsdiskussion, die am 24. Juni an der Universität Paderborn veranstaltet wurde. Fachleute wie die Bildungsexpertin Katja Urbatsch, Gründerin von ArbeiterKind.de, Prof. Dr. Birgit Riegraf, Vizepräsidentin für Lehre, Studium und Qualitätsmanagement und Professorin für Allgemeine Soziologie an der Universität Paderborn, Manfred Müller, Landrat des Kreises Paderborn, und Karl-Heinz Vogt, Vorstandsvorsitzender der Caritas Wohn- und Werkstätten Paderborn, informierten und diskutierten unter Moderation des Wirtschaftspädagogen Jun.-Prof. Dr. Karl-Heinz Gerholz über Ursachen, Gestaltungsfaktoren und Lösungsmöglichkeiten des Problems der Chancenungleichheit im Bildungsbereich.
Im Vorfeld berichtete Katja Urbatsch – selbst Arbeiterkind – über die Schwierigkeiten von Kindern aus Arbeiterfamilien, sich zielgerichtet auf ein Studium hin fortzubilden: „Viele sind durch ihre Sozialisation daran gewöhnt, dass sie eher eine sichere Banklehre als ein in ihrer Vorstellung kaum präsentes Studium vorbereiten und absolvieren“. Dennoch schaffte sie den Sprung ins Akademikerlager, dabei aber bewusst wahrnehmend, wo die Defizite dieser Studierenden der ersten Generation liegen: „Es fehlt einfach der Hintergrund, die Weltläufigkeit, das Wissen um Fremdwörter und Fördermöglichkeiten und oft auch mangelt es einfach am Geld, um sich eine adäquate Studienausrüstung leisten zu können“, berichtet sie aus eigener Erfahrung. So kommt es auch, dass nur 23 Prozent der sogenannten „Arbeiterkinder“ ein Studium beginnen. „Es gibt zu viele Ängste, Bedenken und kaum Unterstützung von Elternseite – man muss erst einmal auf die Idee kommen zu studieren.“
Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen als Lösungsansatz
Die anschließend von Prof. Dr. Gerholz geleitete Diskussionsrunde machte aus unterschiedlichsten Perspektiven deutlich, wie stark auch in einem reichen Land wie Deutschland Chancengleichheit in Sachen Bildung durch materielle und kulturelle Armut verhindert wird. Karl-Heinz Vogt von der Caritas Wohn- und Werkstätten wies mit klaren Worten darauf hin, dass die soziale Vererbung von Armut bereits im Kindesalter Selektionsmechanismen erfahre und er schlug einen Bogen direkt zum Schicksal von Behinderten, die in der Leistungsgesellschaft in hohem Maße mit Ausgrenzung zu kämpfen hätten: „In vielen Sozialunternehmen ist Chancengerechtigkeit am Arbeitsmarkt oder im Bildungszugang jedenfalls nicht der Alltag“ und er forderte mit Blick auf die Politik: „Um die Vererbung von Armut als gesellschaftliches Phänomen zu beseitigen, bedarf es dringender denn je einer Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen, einer besseren Verteilungsgerechtigkeit.“ Jedoch: „Obwohl das Volksvermögen groß ist und die Kluft zwischen Arm und Reich so breit wie nie, fehlt der politische bzw. gesellschaftliche Ruf nach Umverteilung.“
Soziale Ungleichheit hat viele Ursachen
Landrat Manfred Müller forderte in seinem Plädoyer, jedem Menschen den Einstieg in die Bildung bereits früh zu ermöglichen, wobei er ein großes Problem bei sprachlichen Defiziten sieht: „Wer sich nicht adäquat artikulieren kann, wird auch den Umstieg in weiterführende Schulen nicht schaffen.“ Deshalb habe man in Paderborn ein Bildungsbüro eingerichtet und mit dem Integrationszentrum verknüpft. Geschulte „Bildungsbotschafter“ gingen auf Migranteneltern zu und unterstützten mit Rat und Tat beim Übergang von der Schule in den Beruf.
Professorin Birgit Riegraf stellte die Frage nach dem Wesen der sozialen Ungleichheit und beantwortete sie sogleich mit einem gängigen Missverständnis: „Wir dachten lange, das BAFöG sei die Voraussetzung für Chancengleichheit. Dann kam PISA – und wir mussten alle feststellen, dass da doch erheblich mehr Mechanismen am Werk waren.“ So reichten materielle Förderung, Stipendien etc. , alleine nicht aus. Wer die Chancen nicht sehe und kein Zutrauen habe, diese zu nutzen, finde den Zugang zu Bildung nicht: „Es fehlt vielfach am kulturellen Kapital“, was den Wirtschaftspädagogen Prof. Dr, Gerholz zu der provokanten Frage veranlasste: „Ist also jeder seines Glückes Schmied?“ Was Katja Urbatsch mit einem „Ja, aber es wird größtenteils durch Herkunft und Umfeld bestimmt“, beantwortete. Deswegen sei Aufklärung vonnöten.
Abschied vom klassischen Bildungsbegriff?
Dabei sah Karl-Heinz Vogt ein weiteres Dilemma der benachteiligten Gruppen: „Wir reden von Bildung, vorwiegend von der klassischen Bildung; total vernachlässigt wird aber die Neigungsbildung der Menschen, das heißt, individuelle Stärken und Fähigkeiten von Menschen, die nicht in den Rahmen des gängigen Bildungsbegriffs passen. Man muss aber den Menschen die Chance eröffnen, sich einzubringen.“ Dabei war sich der Caritas-Vertreter mit dem Landrat einig, dass vor dem Szenario, dass man künftig mehr Arbeit als Bewerber habe, alles getan werden müsse, um Arbeit an sich lebensfroher zu gestalten, dabei Emotionen zuzulassen, damit die Menschen gerne und unbelastet ihrer Arbeit nachgingen: „Dazu müssen wir völlig anders miteinander umzugehen lernen.“
Zum Ende der Veranstaltung gab Prof. Dr. H.-Hugo Kremer, der mit seinen Professorenkollegen des Departments Wirtschaftspädagogik in Sachen Bildungsreform in Berufskollegs bundesweit eine Vorreiterrolle besetzt, seiner Beschämung Ausdruck, dass in Deutschland viele der vorgenannten Aufgaben und Probleme von Ehrenamtlichen betreut und gelöst werden müssten und er forderte: „Das Ehrenamt leistet hervorragende Arbeit, aber gerade Systemprobleme müssen auch zukünftig in der Bildung als öffentliche Aufgabe verstanden werden.“
Die Podiumsdiskussion war der gelungene Schlusspunkt der erfolgreichen Ringvorlesung „Bildung und soziale Ungleichheit – Gesellschaftliche Herausforderungen und Gestaltung“, die im WS 2014/2015 an der Universität Paderborn von der Bildungssoziologie (Prof. Dr. Riegraf und Dr. Christina Möller) und der Wirtschaftspädagogik (Prof. Dr. Kremer und Jun.-Prof. Dr. Gerholz) ins Leben gerufen worden war.
Text/Foto:
Inforce Öffentlichkeitsarbeit GmbH, Bielefeld
Dr. phil. Dipl. Journ. Reinhard Schwarz
Journalist / Managing Director