Ein Statement von Universitätspräsidentin Prof. Dr. Birgitt Riegraf
Die gegenwärtig verfügbaren Arbeitsmarktdaten zeigen unmissverständlich: Bundesweit gibt es sowohl in akademischen Berufen als auch in zahlreichen Ausbildungsberufen Engpässe an Erwerbsarbeitskräften. Die Arbeitsmarktdaten lassen auch keinen Zweifel daran, dass sich diese Lage bis 2030 noch zuspitzen wird. Bis dahin gehen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation in Rente. Zu wenig junge Nachwuchskräfte rücken also nach. Die Situation wird sich in den kommenden Jahren eher verschärfen als entspannen. So weit, so schlecht für den Arbeitsmarkt!
Was bedeutet dies nun aber für die Region OWL? Eine Änderung der Akademiker*innenquote in Richtung mehr oder weniger Akademiker*innen auf Kosten oder zugunsten der beruflichen Bildung würde in dieser Situation in keiner Weise für Entspannung sorgen. Um die Herausforderungen der kommenden Jahre zu bewältigen, braucht es für die Region OWL sowohl mehr beruflich ausgebildete Facharbeiter*innen als auch mehr Akademiker*innen. Wir brauchen in jeder Hinsicht ein Maximum an Kompetenz und Kreativität in OWL, um die Fragen der Zukunft zu bewältigen, wenn es etwa um Themen wie Nachhaltigkeit oder Digitalisierung geht. Der Ansatz, eine Konkurrenz in der Region zwischen Facharbeiter*innen auf der einen Seite und Akademiker*innen auf der anderen Seite aufzubauen, ist angesichts dieser Lage also eher schädlich. Vielmehr müssen alle Akteur*innen in der Region Hand in Hand arbeiten, um das Umfeld für Erwerbsarbeitskräfte aus allen Bereichen attraktiv zu gestalten und Arbeitskräfte in die Region zu holen und sie zu halten. Dazu gehört neben attraktiven Erwerbsarbeitsbedingungen auch Lebensqualität, was kulturelle Angebote umfasst. In dieser Situation ist eine enge und abgestimmte Zusammenarbeit aller beteiligter Institutionen gefragt. Ein Beispiel für eine solche gelungene Kooperation ist das Projekt „Kein Abschluss ohne Anschluss“.
Annahmen, die davon ausgehen, dass Erwerbsarbeitskräfte deshalb fehlen, weil junge Leute im Gegensatz zu vorherigen Generationen keine Anstrengung mehr auf sich nehmen würden, weshalb sie eher ein „Wattebauschstudium“ wählen als einen arbeitsintensiven nicht-akademischen Beruf und allein um sich selbst zu verwirklichen, entsprechen nicht den Tatsachen. Dies lässt sich nicht belegen. Die Anforderungen eines Studiums sind in Wirklichkeit immens, die Bewältigung eines Studiums ist harte Arbeit.
Derzeit scheint sich der Trend breit zu machen, gegen die „Akademisierung der Gesellschaft“ zu argumentieren. Auch eine solche Entwicklung hin zur weiteren Akademisierung lässt sich nicht anhand von Daten belegen: Tatsächlich ist der Trend zum Studium „vorerst zum Stillstand gekommen“, heißt es etwa im Nationalen Bildungsbericht 2022. Die inländische Studienanfänger*innenquote hat sich bei 45 Prozent einer Generation stabilisiert. Das entspricht in etwa dem OECD-Durchschnitt (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Laut den Daten des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation sind zudem Akademiker*innen noch immer deutlich besser bezahlt und seltener arbeitslos als Nichtakademiker*innen. Auch ein Grund für die Aufnahme eines Studiums: Wer sich etwa für Informatik oder in Maschinenbau eingeschrieben hat, hat in aller Regel kein Problem, während und am Ende des Studiums eine gut bezahlte Tätigkeit zu finden. Und nur, weil kein klares Berufsbild existiert, heißt dies nicht, dass Absolvent*innen – etwa der Literaturwissenschaften – keine Berufsperspektiven haben. Für die Literaturwissenschaften gilt: Der Direkteinstieg nach dem Bachelor oder dem Master ist bei vielen Arbeitgeber*innen möglich – Medienbranche, Kultureinrichtungen, Verlagswesen, Politik, Sprachschulen, Hochschulen oder Forschungseinrichtungen. Laut Bundesagentur für Arbeit haben 99 Prozent aller Absolvent*innen der Literaturwissenschaften auch zehn Jahre nach ihrem Abschluss einen Job, mit dem sie zufrieden sind.
Die Gesellschaft benötigt auch weiterhin Akademiker*innen – genauso wie beruflich Ausgebildete. Sowohl akademische als auch handwerkliche Berufe sind für gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und sozioökonomische Entwicklungen von ungemeiner Bedeutung. Deshalb wäre es mehr als schädlich, den einen Berufsstand gegen den anderen auszuspielen, den einen oder anderen mehr oder eben weniger wertzuschätzen.