Paderborner Forschende und Industriepartner schließen Projekt erfolgreich ab
In der Produktentwicklung sind Projekte oft durch hohe Komplexität, Dynamik und Unsicherheit geprägt. Die Ursache: Neue Erkenntnisse oder veränderte Rahmenbedingungen erfordern eine kontinuierliche Anpassung der Entwicklungsziele. Solche Anpassungen verursachen besonders in späten Stadien große Verzögerungen, hohe Kosten und sind nicht selten eine zentrale Ursache für Projektfehlschläge. Denn ohne eine ganzheitliche Perspektive auf das System werden die Risiken von geänderten Anforderungen oftmals unterschätzt und ineffizient gehandhabt – insbesondere bei komplexen interdisziplinären Systemen. Um die Produktentwicklung zu optimieren, haben Wissenschaftler*innen des Heinz Nixdorf Instituts der Universität Paderborn gemeinsam mit dem Industriepartner IAV eine neue, auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Methode zur Risikoabschätzung und -steuerung von Anforderungsänderungen erforscht. Das auf zwei Jahre angelegte Projekt „ARCA“ (Automated Requirement Change Analysis for the development of complex technical systems) wurde im März erfolgreich abgeschlossen. Es war Teil des Programms „Software-Campus“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Förderung von IT-Führungskräften.
Vom reaktiven zum proaktiven Management
„In der industriellen Praxis fehlt es an Werkzeugen, die über das reaktive Management von Änderungsanforderungen hinausgehen“, so Christian Oleff vom Lehrstuhl für Produktentstehung des Heinz Nixdorf Instituts der Universität Paderborn. Um das zu ändern, hat das Projektteam eine neue Methode für ein proaktives Management von Anforderungsänderungen (ProMaRC = Proactive Management of Requirement Changes) sowie einen entsprechenden Software-Prototyp entwickelt. Die Methodik soll Ingenieur*innen dazu befähigen, Änderungsrisiken von Anforderungen mithilfe von KI frühzeitig abzuschätzen und vorausschauend Gegenmaßnahmen einzuleiten. Durch den automatisierten Ansatz zur Bewertung der Änderungswahrscheinlichkeit und für die Abhängigkeitsanalyse soll der Anwendungsaufwand in der Praxis begrenzt werden.
Ein einfaches Beispiel aus der Entwicklung eines LED-Scheinwerfers für Autos veranschaulicht, wie schnell und stark sich geänderte Anforderungen in einem Teilbereich auf weitere auswirken können. Prof. Dr.-Ing. Iris Gräßler, Leiterin des Lehrstuhls für Produktentstehung, erklärt: „Angenommen, zum Projektstart wurde die Maximaltemperatur des LED-Substrats auf 120 Grad Celsius festgelegt, im Laufe der Entwicklung allerdings auf 90 Grad Celsius reduziert. Um die Temperatur zu senken und gleichzeitig die Leistung des Scheinwerfers beizubehalten, müssen mehr LEDs, jedoch mit geringerem Energieverbrauch, in Betracht gezogen werden. Dies wiederum erfordert eine Änderung der Anforderungen an den Bauraum. Schlussendlich sind es also interdisziplinäre Anforderungsänderungen für den Energiebedarf, die Anzahl der LEDs und den Bauraum aufgrund von Ausbreitungseffekten.“
Um die auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Methode zur Risikoabschätzung und -steuerung von Anforderungsänderungen in der Praxis zu testen, haben Pilotanwender*innen bei IAV sie operativ in drei Entwicklungsprojekten angewandt. „Die automatisierte Abhängigkeitsanalyse ermöglicht hohe Effizienzpotenziale und hat ihre Anwendbarkeit und Nützlichkeit in Industrieunternehmen unter Beweis gestellt“, sagt Daniel Preuß, ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heinz Nixdorf Institut. „Proaktives Risikomanagement für Anforderungsänderungen ist ein bisher kaum erforschtes Feld. Unser Ansatz ermöglicht eine effizientere Produktentwicklung, indem der Handlungsspielraum in der industriellen Praxis erweitert und negative Auswirkungen reduziert werden.“
Neue Erkenntnisse für weitere Projekte
An diesen Erfolg sollen weitere Forschungsprojekte, an denen Paderborner Wissenschaftler*innen beteiligt sind, anknüpfen: Die Erkenntnisse aus „ARCA“ fließen bereits in das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geförderte Projekt „BIKINI“ (Bionik und KI für nachhaltige Integration von Produktentwicklung für einen ressourceneffizienten Leichtbau) ein. In dem Vorhaben geht es um die Integration formalisierter Anforderungsabhängigkeiten in die generative und nachhaltige Produktentwicklung. Auch das BMBF-Projekt „ImPaKT“ (IKT-befähigte modellbasierte Auswirkungsanalyse in der Produktentwicklung) des Lehrstuhls für Produktentstehung verwendet Elemente der ProMaRC-Methodik zur modellbasierten Auswirkungsanalyse von technischen Änderungen.
Publikation
Die Ergebnisse des Projekts haben Gräßler, Oleff und Preuß in dem Open-Access-Journal MDPI „applied sciences“ veröffentlicht: https://doi.org/10.3390/app12041874.