Der 20. Februar ist der Welttag der sozialen Gerechtigkeit, 2009 eingeführt von den Vereinten Nationen. Wie gerecht aber sind gegenwärtige Erwerbsmodelle, wie steht es um die Flexibilisierung der Beschäftigung und die Lohnpolitik großer Unternehmen? Und zu guter Letzt: Wie hat sich die Pandemie auf soziale Gerechtigkeit ausgewirkt? Die Antworten kennt Prof. Dr. Martin Schneider, Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalwirtschaft an der Universität Paderborn.
Soziale Gerechtigkeit – was bedeutet das eigentlich? Wann ist eine Arbeit sozial gerecht und wann nicht?
Prof. Schneider: „Soziale Gerechtigkeit ist ein vager Begriff wie etwa ‚Freiheit‘: Für jede Person kann er etwas anderes bedeuten. Der Philosoph John Rawls sagt, Gerechtigkeit bemisst sich entscheidend daran, wie reich das ärmste Mitglied einer Gesellschaft ist. Das ist aber nur ein Definitionsversuch unter vielen und er ist so radikal, dass längst nicht alle ihn teilen. Dennoch kann man sich gut darüber verständigen, wann Arbeit grundsätzlich als sozial gerecht gelten kann: Der Lohn sollte zum Leben ausreichen und den Beitrag der Beschäftigten zum Unternehmenserfolg würdigen. Zudem sollten die Menschenrechte gewahrt sein. Die Arbeitsbedingungen dürfen z. B. nicht die körperliche Unversehrtheit gefährden und die Bezahlung muss dem Prinzip ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘ entsprechen. Schließlich sollten die Beschäftigten auch eine Stimme, also gewisse Mitspracherechte haben. Die Beschäftigung ist erstaunlicherweise eine der wenigen gesellschaftlichen Bereiche, die nicht demokratisch verfasst sind. Ein Arbeitsvertrag gibt zwar Sicherheit, aber er schafft auch ein Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnis. Wenn man es durch Mitsprache anreichert, z. B. durch einen möglichst überall gewählten Betriebsrat, erhöht auch dies die soziale Gerechtigkeit.“
Wo stehen wir heute in puncto soziale Gerechtigkeit – z. B. mit Blick auf aktuelle Managementstrukturen?
Prof. Schneider: „Viele Beschäftigte in Deutschland verdienen gut und werden durch einen Betriebsrat vertreten, der auch für faire Arbeitsbedingungen sorgt. Aber beides gilt vor allem für Großunternehmen. Die sind auch an Tarifverträge gebunden und managen ihr Beschäftigungssystem professionell, mit Lohngruppen, Personalentwicklung einschließlich Karriereplanung usw. Das Problem: Viele Beschäftigte arbeiten in kleineren Unternehmen, da ist die Situation oft schlechter. Diese Ungleichheiten führen zu sozialer Ungerechtigkeit. Sie werden durch zwei Entwicklungen verstärkt. Großunternehmen versuchen heute, ihre Kosten zu reduzieren, indem sie bestimmte Prozesse an unabhängige Dienstleister auslagern (‚Outsourcen‘) und Leiharbeit nutzen. Damit kommen weniger Menschen in den Genuss der vergleichsweise guten Beschäftigungssysteme großer Arbeitgeber, viele arbeiten stattdessen bei Leiharbeitsfirmen und Auslagerungsunternehmen, die schlechter zahlen. Außerdem sind viele Unternehmen im Servicesektor nicht tarifgebunden und haben auch keinen Betriebsrat. Markus Weißphal, ein Doktorand an der Professur für Personalwirtschaft bei uns in Paderborn, untersucht diese problematischen Entwicklungen.“
Welche Vorteile bieten hier agile Arbeitsmethoden?
Prof. Schneider: „Bei agilen Arbeitsmethoden wie etwa Scrum oder Design Thinking arbeiten Beschäftigte in Teams zusammen und organisieren sich weitgehend selbst. Das gibt den Beschäftigten in gewisser Weise Mitspracherechte: Ihre Expertise wird anerkannt, sie dürfen autonom entscheiden. Im Arbeitsalltag spielen dann Befehl und Gehorsam eine geringere Rolle. Allerdings darf man agile Arbeit nicht mit echter Demokratie bei der Arbeit verwechseln. Das Abhängigkeitsverhältnis im Arbeitsvertrag bleibt ja unangetastet. Der Arbeitgeber kann das Experiment der agilen Arbeitsweise jederzeit für beendet erklären. Außerdem könnte man fragen: Wenn Beschäftigte mitentscheiden und ihr Team organisieren, ist das ja hochwertige Führungsarbeit – werden die Beschäftigten auch entsprechend großzügiger vergütet? In den meisten Fällen vermutlich nicht.“
Die Flexibilisierung der Beschäftigung ist in aller Munde, spätestens seit der Coronapandemie. Welche Vorteile und Nachteile sind damit verbunden?
Prof. Schneider: „Flexibilisierung bedeutet, dass man an anderen Orten als z. B. der Fabrik oder dem Büro arbeiten darf und zu teilweise selbst gewählten Arbeitszeiten. Viele Arbeitgeber waren früher skeptisch, doch die Pandemie hat gezeigt, dass Motivation und Produktivität der Beschäftigten bei flexibler Arbeit eher steigen als fallen. Beschäftige können ihre beruflichen und privaten Verpflichtungen besser miteinander vereinbaren. Wenn Flexibilität bedeutet, Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen die jeweils richtige Arbeitsform anzubieten, ist das erst einmal sozial gerecht. Der Nachteil: In vielen Berufen funktioniert weder das Homeoffice noch eine flexible Arbeitszeitregelung. Das gilt für die meisten Beschäftigten von Krankenhäusern, Kaufhäusern, Pflegeheimen, Logistikzentren, Paketdiensten und im Handwerk. Tendenziell handelt es sich dabei um Arbeitsplätze, die gleichzeitig schlechter bezahlt werden und mit schwierigeren Arbeitsbedingungen verbunden sind. Die Flexibilisierung droht also, eine neue Kluft aufzureißen: zwischen den glücklichen Wissensarbeitenden mit Laptop zuhause und den übrigen Beschäftigten.“
Was müssen Arbeitswelten der Zukunft berücksichtigen, damit sie wirklich sozial gerecht sind?
Prof. Schneider: „Die Lohnpolitik von Großunternehmen ist in gewisser Weise solidarisch, weil Beschäftigte am unteren Ende der Hierarchie relativ viel verdienen, mehr jedenfalls als in kleineren Unternehmen, die nicht tarifgebunden sind. Daher gilt: Weniger Outsourcing und weniger Leiharbeit würde wieder zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen. In kleineren Unternehmen sollte man faire Entgeltstrukturen schaffen: solidarische Bonussysteme und transparente Stellenbewertungen, bei denen auch die Belastungen manueller oder psychisch anstrengender Arbeit angemessen honoriert werden. Außerdem Mitsprachemöglichkeiten. Wenn die Beschäftigten selbst keinen Betriebsrat wählen, dann sollte der Arbeitgeber ein Gremium einrichten, um den Beschäftigten eine Stimme zu geben. Generell sind die Voraussetzungen in Deutschland gut. Wir haben eine soziale Marktwirtschaft, wo der Gesetzgeber Mindeststandards setzt. Ein Mindestlohn springt heute ein, weil Tarifverträge oft nicht mehr greifen. Eine Quote wird künftig die Zahl der Frauen in den Vorständen großer Unternehmen erhöhen. Solche Korrekturen bleiben allerdings auch notwendig, denn ein weitgehend unregulierter Arbeitsmarkt sorgt erfahrungsgemäß nicht für soziale Gerechtigkeit, wie die Bürgerinnen und Bürger sie einfordern.“
Zum Schluss: Welche Auswirkungen hat die Coronapandemie auf die soziale Gerechtigkeit?
Prof. Schneider: „Wie die meisten politischen und ökonomischen Krisen hat auch die Pandemie die soziale Ungleichheit verstärkt. Im ersten Lockdown ist ja sofort aufgefallen: Viele der Besserverdienenden konnten bequem im Homeoffice arbeiten, bei unveränderten Bezügen. Zu denen gehöre ich selbst übrigens auch. Viele Beschäftigte mit geringerem Verdienst verloren hingegen ihre Arbeit, etwa in der Gastronomie, mussten Einkommensbußen durch Kurzarbeit hinnehmen oder waren als systemrelevante Beschäftigte im Arbeitsalltag dem Virus ausgesetzt. Die Schulschließungen waren ebenfalls problematisch. Weniger gelernt haben in den letzten beiden Jahren ja die Kinder, deren Eltern sie nicht gut unterstützen konnten. Das sind vermutlich sozial schwache Haushalte, in denen die Eltern vielleicht kaum Deutsch beherrschen, in denen kein Geld für ein Tablet vorhanden ist oder die Eltern selbst keinen hohen schulischen Bildungsgrad aufweisen. Wenn die Lernlücken nicht aufgeholt werden, beeinträchtigt die Pandemie langfristig die Aussichten dieser Kinder, sozial aufzusteigen, also die Chancengerechtigkeit in unserer Gesellschaft.“