Wis­senschaftler­*innen der Uni­versität Pader­born un­ter­suchen Fol­gen der Corona-Pandemie für das Schützen­wesen in West­falen

 |  Forschung

Umfrage zeigt: Kulturelle Praxis ist stark getroffen

Keine Umzüge, keine Ehrungen, keine Versammlungen: Wegen der Corona-Krise mussten in diesem Jahr die Schützenfeste und nahezu alle kulturellen Angebote der Vereine abgesagt, gemäß den Hygienevorschriften neu konzipiert oder in digitale Formate umgewandelt werden. Um herauszufinden, wie sehr sich die kulturelle Praxis der Schützenvereine deshalb verändert hat, haben Wissenschaftler*innen des Kompetenzzentrums für Kulturerbe der Universität Paderborn in Kooperation mit der Warsteiner Brauerei eine Online-Umfrage zu den Folgen der Corona-Pandemie durchgeführt. Aus den ersten Ergebnissen zieht Jonas Leineweber, Projektmitarbeiter an der Universität Paderborn, ein Zwischenfazit: „Die kulturelle Praxis der Schützenvereine ist durch die Pandemie in ihrem Lebensnerv und Wesenskern getroffen, da gerade das Zusammenspiel von Gemeinschaft und Geselligkeit in der Krise nur schwer realisierbar und digital simulierbar ist.“ Gleichzeitig könne sich die Pandemie in einigen Bereichen des Schützenwesens aber auch als Quelle der Inspiration und Transformation erweisen.

Insgesamt 2.274 Personen haben vom 1. September bis 2. November an der Befragung teilgenommen. 90 Prozent von ihnen sind Mitglieder in einem Schützenverein oder haben etwa als Festbesucher*in einen Bezug zum Schützenwesen. Die Leiterin des Projekts und des Kompetenzzentrums, Prof. Dr. Eva-Maria Seng, kennt die aktuellen Risiken für das Schützenwesen genau: „Die Corona-Pandemie traf insbesondere den Bereich des Immateriellen Kulturerbes, also Bräuche und Rituale, aber auch den ganzen Bereich der Aufführungspraxis. Ausdrucksformen wie das Schützenwesen spüren die vielfältigen Auswirkungen nun massiv. Die große Teilnahmebereitschaft an der Umfrage und deren große Resonanz in der Bevölkerung zeigt, wie stark das Bedürfnis nach Forschung und Auseinandersetzung mit dem Immateriellen Kulturerbe auch während der Krise ist.“

Geselligkeit in Zeiten von Kontaktreduzierung?

Im Forschungsprojekt „Tradition im Wandel“ untersuchen die Paderborner Forscher*innen historische Entwicklungen, Wandlungsprozesse und gegenwärtige auf das Schützenwesen wirkende Risiken, um gemeinsam mit den Vereinsakteuren Zukunftskonzepte zu erarbeiten. Bereits seit Juli stehen insbesondere die Folgen der Corona-Pandemie im Fokus der Untersuchungen. Die aktuelle Umfrage macht deutlich: Geselligkeit und Gemeinschaft, genau die Werte, die in der Krise besonders schwer miteinander in Einklang zu bringen und zu vermitteln sind, zeichnen das Schützenwesen für die Befragten am stärksten aus. Auch die Aspekte Heimat, Tradition, Gemeinsinn, lokale Identität und Förderung des Zusammenhalts in der Ortsgemeinschaft prägen für jeweils über 90 Prozent der Umfrage-Teilnehmer*innen das Schützenwesen. „Schon bei solch allgemeinen Angaben zur Funktion und Wirkung der Schützenvereine in Westfalen wird die Tragweite der Pandemie für die kulturelle Praxis des Schützenwesens deutlich“, betont Leineweber.

Dass sich die kulturelle Praxis ihres Vereins durch die Pandemie stark oder sogar sehr stark verändert hat, denken 83 Prozent der Befragten. Im Vergleich zu anderen Veranstaltungen und Angeboten der Vereine bedauern über 90 Prozent der Umfrageteilnehmer*innen den Ausfall der Schützenfeste am stärksten. Über 80 Prozent der Befragten schildern, dass ihnen das Schützenfest speziell als Ort der Begegnung und des Wiedersehens mit Freunden und Bekannten sowie als Ort der Geselligkeit und Gemeinschaft fehle. Auch das Erleben von Traditionen und Ritualen vermissen 81 Prozent stark beziehungsweise sehr stark, während der Wegfall des ausgelassenen Feierns und des gemeinsamen Essens und Trinkens auf den Schützenfesten mit 66 Prozent am wenigsten beklagt wird.

Dennoch geben 95 Prozent der Befragten an, dass die Absage der Schützenfeste richtig war. Aus ihrer Sicht hätten die Vereine während der Corona-Pandemie insbesondere Werte wie Verantwortungsbewusstsein, Vernunft, Solidarität und Gemeinschaft vermittelt. Dazu Leineweber: „Auch die Schützenvereine haben in der Corona-Pandemie als zivilgesellschaftliche Akteure ihre Bindegliedfunktion und gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen und somit dazu beigetragen, die gebotene Rücksichtnahme in die Breite der Gesellschaft zu tragen.“

Die von vielen Vorständen durch das Pandemiegeschehen befürchtete Entwöhnung und Abwendung vom Verein sei dagegen nicht messbar: So ist für jeden Vierten der Befragten trotz der zahlreich ausgefallenen Veranstaltungen die Bedeutung der Schützenvereine gestiegen, während sie für 13 Prozent gesunken ist. Die Motivation, zukünftig ein Schützenfest zu besuchen, ist sogar bei 48 Prozent der Befragten gestiegen und nur bei 5 Prozent gesunken.

Die Krise als Katalysator: Vereinskommunikation wird neugestaltet

Neben Risiken und Herausforderungen ermittelten die Wissenschaftler*innen auch, in welchen Bereichen sich die Schützenvereine durch die Pandemie weiterentwickelt konnten. Die größten Tendenzen sehen die Befragten bei der Kreativität der Vereine (35 Prozent). „Damit dürfte zuvorderst der kreative Umgang mit dem Ausfall der Schützenfeste und die Ausgestaltung eines Alternativprogramms gemeint sein“, erklärt Leineweber die Ergebnisse.

Für die Digitalisierung der Vereine könnte sich die Krise sogar als Katalysator erweisen: Ein Drittel der Umfrageteilnehmer*innen gab an, dass sich ihr Schützenverein während der Corona-Pandemie bei der Nutzung der sozialen Medien (stark/sehr stark 33 Prozent) und im Bereich der Digitalisierung (24 Prozent) weiterentwickelt habe. „Diese Themen wurden zwar schon vor der Pandemie von zahlreichen Vereinen fokussiert, allerdings nicht mit der nötigen Entschlossenheit und der gebotenen Dringlichkeit, gerade im Hinblick auf den Bereich der Vereinskommunikation“, erläutert der Paderborner Wissenschaftler.

Auch bei den Vorstandsmitgliedern spielt die Digitalisierung eine wesentliche Rolle: Laut Umfrage haben 30 Prozent von ihnen während der Corona-Pandemie im Rahmen einer Vorstandstätigkeit an einer Videokonferenz teilgenommen, 70 Prozent waren mit dieser Erfahrung zufrieden beziehungsweise sehr zufrieden. Dazu Leineweber: „Die in der Pandemie eingeübten digitalen Formate könnten sich langfristig auch als geeignet für die bessere Einbindung und Teilhabe derjenigen erweisen, die nicht mehr im Ort des Schützenvereins wohnen, sich aber dennoch engagieren und einbringen möchten. Bisher war das Nicht-Vor-Ort sein wohl eines der gewichtigsten Ausschlusskriterien von Vorstand und Vereinsarbeit.“

Zukunftsszenarien für die Schützen- und Ortsgemeinschaft

Sollte die Krise auch im nächsten und übernächsten Jahr anhalten, sodass Schützenfeste und andere Veranstaltungen der Schützen nicht wie üblich stattfinden können, habe das aus Sicht der Befragten erhebliche Folgen für die Praxis der Schützenvereine – aber auch für das Leben in den Ortschaften der Vereine. So rechnen 69 Prozent dann mit einem Rückgang der Schützenvereinsgemeinschaft, 60 Prozent gehen von einem Mitgliederschwund aus, 59 Prozent von einem Bedeutungsverlust und 54 Prozent sogar von einer Existenzbedrohung der Schützenvereine.

Bei anhaltendem Pandemiegeschehen befürchten darüber hinaus 83 Prozent der Befragten einen grundsätzlichen Rückgang kultureller Angebote in ihrem Wohnort und 69 Prozent ein Zurückgehen sozialer Aktionen. Eine deutliche Mehrheit vermutet auch, dass durch einen Ausfall der Schützenveranstaltungen im nächsten und übernächsten Jahr das Gemeinschaftsgefühl (69 Prozent) sowie der Zusammenhalt in ihren Wohnorten (58 Prozent) zurückgehen, die Unzufriedenheit in ihrem Wohnort steigen (68 Prozent) und ein genereller Attraktivitätsverlust des Wohnortes einsetzen könnte (53 Prozent). Leineweber ordnet die Ergebnisse ein: „Diese Angaben zu den Auswirkungen für den gesamten Ort und die Ortsgemeinschaft, in dem die Schützenvereine ansässig sind, lassen erahnen, welche Bedeutung die Vereine gerade in den ländlichen Regionen als Träger kultureller Infrastruktur und gemeinschaftsstiftenden Faktor einnehmen.“

Projektleiterin Prof. Seng bilanziert: „Um die Auswirkungen der Pandemie in diesem besonderen kulturellen Bereich überwinden zu können, muss sich unsere Gesellschaft Gedanken über diese Entwicklungen machen und Resilienzstrategien, also Zukunftskonzepte, für diese kulturellen Phänomene erarbeiten.“

Umfrage-Ergebnisse im Podcast

Die ersten Teilergebnisse der Umfrage können sich Interessierte auch im Podcast anhören: Da die dritte Warsteiner Schützenkonferenz am 7. November, auf der die Ergebnisse eigentlich vorgestellt werden sollten, nicht stattfinden konnte, setzen sie die Verantwortlichen nun als Podcast um. Ab sofort stehen immer mittwochs neue Folgen zur Verfügung, in denen verschiedene Referenten über die diesjährigen Schwerpunktthemen der Konferenz sprechen. Die Folge zu den Ergebnissen der Corona-Sonderumfrage ist ab heute (18. November) unter go.upb.de/schuetzenpodcast abrufbar.

Weitere Informationen gibt es unter: go.upb.de/schuetzenwesen

Foto (Universität Paderborn, Jennifer Strube): Symbolbild: In diesem Jahr mussten die Schützenfeste in vielen Regionen ausfallen. Wissenschaftler*innen der Universität Paderborn untersuchen in einer Sonderstudie die Folgen der Corona-Pandemie für das Schützenwesen in Westfalen.
Foto (Kirsten Hötger): Jonas Leineweber von der Universität Paderborn.
Foto (Universität Paderborn): Prof. Dr. Eva-Maria Seng, Leiterin des Projekts und des Kompetenzzentrums für Kulturerbe an der Universität Paderborn.

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Prof. Dr. Prof. h.c. mult. (HAUST, LIT) Eva- Maria Seng

Materielles und Immaterielles Kulturerbe

Inhaberin des Lehrstuhls für Materielles und Immaterielles Kulturerbe und federführende Vertrauensdozentin der Studienstiftung des deutschen Volkes

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