Prof. Dr. Miriam Strube und Prof. Dr. Christoph Ribbat analysieren die US-Wahlen 2020
In einer extrem aufgeheizten Atmosphäre wählten so viele US-Amerikaner*innen wie nie zuvor und es gab ein Kopf-an-Kopf-Rennen: Die US-Wahlen 2020 hielten die Welt tagelang in Atem. Seit dem 7. November steht fest: Der Demokrat Joe Biden ist neuer gewählter Präsident der USA und Kamala Harris gewählte Vize-Präsidentin. Was verhalf ihnen zum Sieg, was ist von ihnen zu erwarten und wie könnten sie die tiefe gesellschaftliche Spaltung der USA verringern? Prof. Dr. Miriam Strube und Prof. Dr. Christoph Ribbat vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Paderborn analysieren im Interview den Ausgang der US-Wahlen.
Frau Strube, Herr Ribbat, welche Themen und welche Wählergruppen haben letztlich den Ausschlag für das Duo Biden/Harris gegeben?
Miriam Strube: Durch die extreme Politik Donald Trumps wurden viele Wähler*innen mobilisiert – und das auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Das heißt, dass es Viele gab, die für Joe Biden und Kamala Harris gestimmt haben, weil diese eben nicht Trump sind und für sich als „Anti-Trump“ geworben haben. Durch Trump gibt es unter progressiven Menschen einen neuen Aktivismus und eine neue Solidarisierung, und zwar in einem Ausmaß und in einer Form, die es ohne ihn nicht gegeben hätte. Die Ermordung des Schwarzen George Floyd durch Polizisten in Minneapolis wirkte noch einmal schockierender, weil es unter anderem keine Botschaft des Trostes durch den amtierenden US-Präsidenten gab.
Christoph Ribbat: Joe Biden hat ganz bewusst die „Seele Amerikas“ angesprochen. Viele US-Amerikaner*innen, denen Trumps Verhalten und Sprache missfallen hat, konnten sich mit einer Rückbesinnung auf Werte wie Ehrlichkeit und Bodenständigkeit sowie mit einem moderaten Ton identifizieren. Das gilt sicher auch für einige Republikaner*innen. Gerade für Staaten im sogenannten „rust belt“, also der Industrieregion im Nordosten der USA, konnten Stimmen zurückgewonnen werden, die die als elitär wahrgenommene Hillary Clinton 2016 verloren hatte.
Miriam Strube: Und neben dieser eher gemäßigten Wählergruppe konnten über die designierte Vizepräsidentin auch progressivere Lager angesprochen werden, die sich eine afroamerikanische Frau im Weißen Haus wünschen.
Phänomen Briefwahl: In den umkämpften Staaten Wisconsin, Michigan, Pennsylvania und Georgia brachten die Briefwahlstimmen die Wende zugunsten von Biden. Warum wird in den USA die Briefwahl traditionell mehrheitlich von Wählerinnen und Wählern der Demokraten genutzt?
Miriam Strube: Bislang liegen uns noch keine wissenschaftlichen Erklärungen vor, warum in den letzten 20 Jahren die Briefwahl vor allem der Demokratischen Partei zugutegekommen ist. Warum in diesem Jahr so enorm Viele per Brief für Biden und Harris votierten, lässt sich hingegen einfach erklären: durch den Trump-Effekt.
Christoph Ribbat: Trump hat die Briefwahl bewusst politisiert – so wie die Atemschutzmaske. Er hat die Briefwahl – zu Unrecht – als anfällig für Fälschungen dargestellt: Also sind seine Anhänger*innen persönlich zu den Wahlurnen gegangen. Außerdem hat Trump die Folgen der Corona-Epidemie immer wieder heruntergespielt. Also sahen seine Anhänger*innen kein Problem in einer Ansammlung von Menschen vor oder in Wahllokalen.
Miriam Strube: Trump hat also teilweise selbst die Situation herbeigeführt, die er jetzt beklagt, nämlich das starke demokratische Abschneiden in der Briefwahl – eine Situation, in der nun die Wahl Bidens angezweifelt und angegriffen wird.
10 Millionen Arbeitslose, mehr als 230.000 Corona-Tote, eine extrem polarisierte Gesellschaft, ein nach wie vor tiefsitzender struktureller Rassismus und viel Vertrauen bei den transatlantischen Bündnispartnern verloren: Biden und Harris stehen vor enormen Herausforderungen. Was ist in den kommenden vier Jahren von ihnen innen- und außenpolitisch zu erwarten – auch für Deutschland?
Christoph Ribbat: Das kommt sicher auf die Senatsnachwahlen in Georgia Anfang Januar an. Wenn die Demokraten damit die Mehrheit im Senat, einer der beiden Kongresskammern, gewinnen, könnten sie sehr umfassende innenpolitische Projekte angehen – und wären sicher auch offen, außenpolitisch, für intensive internationale Zusammenarbeit gegen den Klimawandel. Wenn der Senat bei den Republikanern bleibt, wären die Änderungen zur Trump-Ära sicher weniger dramatisch.
Miriam Strube: Biden hat ja in seinem Wahlprogramm aufgezählt, was er für wichtig hält: Erstens: Er möchte mit der Corona-Epidemie anders umgehen als sein Vorgänger, etwa durch kostenlose Tests für alle, zweitens: die Gesundheitsreform soll noch weiter ausgebaut werden, drittens: er fordert die Erhöhung des föderalen Mindestlohns auf 15 Dollar und viertens: die Entprivatisierung und Reform des Gefängnissektors. Außenpolitisch sucht er die Rückkehr zur internationalen Zusammenarbeit, etwa mit der NATO und der Weltgesundheitsorganisation, und er will zurück in das Pariser Klimaabkommen – bis 2035, spätestens aber 2050 will er die USA klimaneutral sehen. Insgesamt wird er multilaterale Abkommen und Gespräche schätzen und fördern.
Joe Biden wurde von 78 Millionen US-Bürger*innen gewählt – von so vielen wie kein US-Präsident zuvor. Auf Platz Zwei folgt Donald Trump, dem 73 Millionen Menschen ihre Stimme gaben – 10 Millionen mehr als 2016. Warum schenkten so viele US-Amerikaner*innen ihm – teils erneut – ihr Vertrauen?
Miriam Strube: Das ist schwer zu beantworten, zumal die Motivation Vieler auch nicht unbedingt bewusst oder klar definierbar ist. Natürlich hat Donald Trump mit seinen Slogans „Make Amerika Great Again“ und „America First“ auf wichtige US-amerikanische Erzählungen angespielt und sie instrumentalisiert, vor allem die Erzählung des sogenannten amerikanischen Exzeptionalismus, die auf dem Grundsatz basiert, dass den Vereinigten Staaten eine Sonderstellung gegenüber allen anderen Nationen zukommt.
Christoph Ribbat: Einige Beobachter*innen sagen auch, dass es am tiefsitzenden Rassismus weißer US-Amerikaner*innen liegt, die diesen offensichtlich rassistisch denkenden Menschen gern weiterhin im Weißen Haus sitzen sehen wollten. Ich bin nicht sicher, ob das wirklich so viel erklärt.
Miriam Strube: Diese Gruppe von Menschen gibt es, aber dazu gehören natürlich nicht alle Trump-Wähler*innen. Laut wissenschaftlicher Einschätzung gibt es auch Wähler*innen, die ihre Entscheidung von einem einzigen Aspekt abhängig machen, etwa davon, dass Trump keine Einschränkung von Waffen sehen möchte. Unter den Evangelikalen kann zum Beispiel die Tatsache entscheiden, dass Trump mittlerweile strikt gegen Abtreibungen ist und konservative Richter im Obersten Gericht installiert hat.
„Wir respektieren die Erhabenheit des demokratischen Systems. Amerika muss immer an erster Stelle stehen („America must always come first“) und wir kommen hinter dem neuen Präsidenten zusammen und wünschen ihm alles Gute.“ So stilvoll gratulierte 1992 der abgewählte republikanische US-Präsident George Bush senior seinem Nachfolger Bill Clinton. Unter Trump wurde „America first“ der Slogan für eine nationalistische, auf Spaltung, Ausgrenzung und hasserfüllte Rhetorik setzende Politik. Was müssen Demokraten und Republikaner tun, um das vielfach vergiftete politische Klima und die gesellschaftliche Spaltung des Landes zu verringern?
Miriam Strube: Was die Demokratische Partei unter Obama und den Clintons sicherlich versäumt hat, sind angemessene Reaktionen auf den globalen Neoliberalismus, von dem natürlich auch die USA betroffen sind. Menschen wie beispielsweise in der bereits angesprochenen Industrieregion im Nordosten der USA haben durch die Deindustrialisierung ihre Arbeit verloren und mussten in andere, schlechter bezahlte Sektoren abwandern. Diese Menschen haben sich vergessen, ungesehen oder nicht gehört gefühlt. Biden muss es gelingen, für diese Menschen solide Arbeitsbedingungen zu schaffen. Und wie Trump muss er ihnen auch das Gefühl geben, gesehen und gehört zu werden.
Christoph Ribbat: Eine Rückbesinnung auf gemeinsame Werte würde beiden Parteien guttun, um die tiefe Spaltung in den USA zumindest ein wenig zu reduzieren. Eine gemäßigte Rhetorik und ein Aufeinanderzugehen – auch im Senat und Repräsentantenhaus – wären hier hilfreich. Aber das ist vermutlich nur Wunschdenken unsererseits.
Die US-Demokratie ist eine der ältesten und stabilsten der Welt und sie hat immer wieder sehr gegensätzliche Präsidenten hervorgebracht. Ein genauer Blick auf das US-Wahlsystem zeigt aber auch Dinge, die in Deutschland undenkbar scheinen: Gruppen werden vom Wählen ausgeschlossen oder es wird ihnen extrem erschwert und in den meisten Bundesstaaten können sich die regierenden Parteien die Wahlkreise zu ihren Gunsten zurechtschneiden. Hinzu kommt, dass sich US-Bürger*innen erst selbst fürs Wählen registrieren müssen – da es kein Melderegister wie bei uns gibt. Welche Reformen wären nötig, um das US-Wahlsystem gerechter zu machen?
Christoph Ribbat: Viele US-Amerikaner*innen weisen auf die Notwendigkeit des Wahlkollegiums, des „Electoral College“, hin, also darauf, dass mit Hilfe der Bundestaaten beziehungsweise ihrer Wahlleute abgestimmt und der Präsident nicht direkt vom Volk gewählt wird. Dadurch, so die These, gäbe es eine fairere Balance zwischen den großen und kleinen Staaten.
Miriam Strube: Interessant ist die Analyse von Akhil Reed Amar, Verfassungsrechtler an der Yale University. Er betont, dass das eigentliche Kalkül – bei der Schaffung des Wahlkollegiums 1787 wie bei der späteren Version, die 1804 als zwölfter Zusatzartikel in der amerikanischen Verfassung kodifiziert wurde – nicht im Sinne der kleinen Staaten war, sondern vielmehr im Sinne der Südstaaten. Deren Sklav*innen durften natürlich nicht wählen, wurden aber bei der Zählung der Einwohnerzahl des jeweiligen Staats berücksichtigt. Der Modus dafür war die sogenannte Drei-Fünftel-Klausel, wonach drei von fünf Sklav*innen gezählt wurden. Dadurch konnten sich die Südstaaten eine deutlich höhere Einwohnerzahl anrechnen lassen, was sich in einem deutlich höheren Anteil im Wahlkollegium niederschlug. Auch vor diesem historischen Hintergrund wäre es wichtig, eine Reform des Wahlsystems durchzuführen. Diese könnte darin bestehen, das Wahlkollegium prozentual abstimmen zu lassen, wie es seit längerem der „National Popular Vote Interstate Compact“ anstrebt. Staaten, die diesem Pakt beitreten, erklären, nicht auf der Grundlage der jeweiligen Stimmenmehrheit in ihrem eigenen Staat im Wahlkollegium abzustimmen, sondern entsprechend dem Wahlausgang auf nationaler Ebene, das heißt, sich am Ergebnis des popular vote zu orientieren.
In einigen Bundesstaaten gibt es auch weitere Vorschläge, etwa in Bezug auf den 13. Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten folgend. Dieser Zusatzartikel schaffte 1865 zwar die Sklaverei und Zwangsarbeit endgültig ab, allerdings mit Ausnahmen für Straftäter*innen. Und so kommt es auch im 21. Jahrhundert noch in einigen US-Bundesstaaten dazu, dass Menschen, die verurteilt wurden und ihre komplette Haftstrafe abgesessen haben, ihre Rechte, zum Beispiel ihr Wahlrecht, für immer verlieren. Hier arbeiten einige Bundesstaaten, zum Beispiel Florida, an einer gerechten Modifizierung, etwas, was man sich für alle Staaten der USA wünscht.
Interview: Simon Ratmann, Stabsstelle Presse, Kommunikation und Marketing