„Kirche, Kul­tur, Kir­mes“: Prof. Dr. Nicole Priesching über die his­tor­ischen Hin­ter­gründe des Li­bori-Festes

Vom 27. Juli bis 4. August steht Paderborn wieder ganz im Zeichen des Libori-Festes. Prof. Dr. Nicole Priesching vom Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn erläutert im Interview dessen geschichtlichen Ursprung.

Frau Priesching, wie das Motto „Kirche, Kultur, Kirmes“ schon andeutet, hat das Libori-Fest einen religiösen Ursprung. An was wird hier erinnert?

Das Libori-Fest erinnert an die Überführung der Gebeine des heiligen Liborius von Le Mans nach Paderborn im Jahr 836. Zu dieser Zeit gab es gute persönliche Beziehungen zwischen dem Paderborner Bischof Badurad und Bischof Aldrich aus Le Mans, einem gebürtigen Sachsen (Paderborn lag damals im Siedlungsgebiet des westgermanischen Völkerverbands der Sachsen). Beide hatten im Februar 836 die Aachener Synode besucht.

Nach Darstellung des Augenzeugen Erconrad, die allerdings erst in einer Abschrift aus dem 15. Jahrhundert überliefert ist, brach Ende März/Anfang April 836 eine Paderborner Gesandtschaft unter Führung des Archidiakons Meinolf nach Le Mans auf, wo sie am 29. April eintraf. Die Gebeine des heiligen Liborius, des ca. 397 gestorbenen vierten Bischofs von Le Mans, wurden feierlich in der Kirche St. Victeur gehoben. Schließlich wurde, veranlasst durch Kaiser Ludwig den Frommen, ein „immerwährender Liebesbund“, also eine Gebetsverbrüderung zwischen beiden Kirchen geschlossen.

Nach der Legende soll bei der feierlichen Überführung von Le Mans nach Paderborn ein stolzer Pfau vorangeflogen sein. Er wies den Weg in die Stadt, wo er, nachdem die Gruppe im Dom angekommen war, starb. Auf Darstellungen wird der heilige Liborius deshalb häufig mit einem Pfau dargestellt und bei der großen Liborius-Prozession im Sommer wird dem goldenen Libori-Schrein noch heute ein großer Pfauenwedel vorangetragen.

Liborius wurde zunächst vor allem während Wallfahrten verehrt. Seit dem 16. Jahrhundert gehört der Paderborner Magdalenenmarkt zum Libori-Fest, denn der Markt sollte vom 19. bis 26. Juli abgehalten werden – und da lag der Festtag des Liborius am 23. Juli genau in der Mitte. Damit verband sich das Fest mit einer Kirmes und einem Markt. Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Magdalenenmarkt als „Liborimarkt“ bezeichnet und gewann immer mehr an Bedeutung.

In der Spätantike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wurden immer wieder sterbliche Überreste von als Heiligen verehrten Menschen feierlich von einem Ort zu einem anderen übertragen. Warum?

Nach der Pfingstpredigt des Petrus war Jesus während der drei Tage im Grab ohne Verwesung geblieben (Apg 2,24–28). Im Frühmittelalter zeigten wiederum zahlreiche Graböffnungen, dass die Leiber der Heiligen unverwest geblieben waren. Wenn Gott die Leiber der Heiligen auf diese Weise ehrte, dann durften die Menschen diese nicht zerstückeln. So war die Teilung eines Leichnams oder das Wegnehmen einzelner Knochen einerseits problematisch, konnte das doch den Unwillen des Heiligen erregen. Andererseits findet sich bereits zur selben Zeit die Idee, dass der Heilige in jedem seiner Teile anwesend sei. Dies legitimierte die Praxis, Partikel von Heiligen an Personen oder Kirchen zu senden, mit denen man sich besonders verbunden fühlte. Aus dem Reliquienschatz, den Karl der Große seit Ende des 8. Jahrhunderts in Aachen angesammelt hatte, stammten wohl die Haare der Jungfrau Maria, die um das Jahr 800 dem neuen Bistum Paderborn als Gründungsausstattung übergeben worden waren. Doch galt auch hier: Mehr ist mehr. Das Besondere am heiligen Liborius war, dass es sich hierbei um eine Ganzkörperreliquie handelte.

Nach Sachsen gelangten die meisten Heiligen und Reliquien in drei Schüben: Der erste fand an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert statt. Missionare brachten von ihren Reisen nach Rom, Unteritalien und den Britischen Inseln Gebeine von Heiligen mit. Diese trugen sie auf ihren Missionsreisen in kleinen Reliquienbeuteln um den Hals oder hinterlegten sie in Tragaltären. Der zweite Schub erfolgte im 9. Jahrhundert, als Reliquien fest in die Altäre der bischöflichen Sitze, der Tauf- und Klosterkirchen eingeschlossen wurden. In einem dritten Schub kamen in der Folgezeit spezifische „Sonderheilige“ nach Sachsen, welche die Missionsstationen unverwechselbar machten.

Die Reliquientranslationen sind nicht nur als religiös motivierte Aktionen zur Christianisierung Sachsens zu deuten. Die karolingischen Herrscher, die Bischöfe und der sächsische Adel bauten mit je eigenen Interessen auf die Heiligen. Die Adeligen wollten ihre Herrschaft festigen, die Erinnerung an ihre Ahnen in deren Grablege sichern und den Einfluss der Ortsbischöfe auf ihre Klöster beschränken. Der fränkische König erwartete vom Adel als Gegenleistung für die Beschaffung von Reliquien militärische Unterstützung. Demselben Prinzip folgte der Papst, der Reliquien – die meisten stammten, wie erwähnt, aus Rom – an seine Unterstützer im Kampf gegen die Sarazenen vergab. So lassen sich an den Translationen die Beziehungen zwischen weltlicher und geistlicher Elite Sachsens zur Führungsschicht des Reiches und zum Papsttum ablesen. Reliquien waren eine Währung. Ihr Wert stieg, wenn sie durch die Hände hochrangiger Vermittler gingen. Die Biographie der Heiligen wurde mit neuen Sinngehalten aufgeladen, so dass ihre Wirkkraft (virtus) stieg.

Im 14. Jahrhundert wurden Reliquien, die ursprünglich verhüllt und eingeschlossen gewesen waren, sichtbar gemacht und zur Schau gestellt. Die größten Reliquiensammlungen entstanden im 15. Jahrhundert. Gleichzeitig gab es aber auch Kritik an Reliquien, da diese leicht magisch verdinglicht werden konnten.

Wie gestaltet sich die kirchliche Liboriwoche in Paderborn heutzutage?

Die kirchliche Liboriwoche reicht vom Freitag (26. Juli) bis zum Sonntag (4. August), hat ihren Höhepunkt jedoch an vier Tagen: Am ersten Samstag werden in der Pontifikalvesper die Reliquien aus der Krypta in den Domchor erhoben. Dort steht der goldene Liborius-Schrein mit den Reliquien für die kommenden Tage zum Anbeten bereit. Den wohl bekanntesten und auffallendsten Programmpunkt stellt die große Prozession durch die Paderborner Innenstadt am Sonntagvormittag dar. Diese Prozession startet und endet im Hohen Dom zu Paderborn. Am darauffolgenden Dienstag werden die Reliquien des heiligen Liborius in die Krypta zurückgeführt. Das diesjährige Motto der kirchlichen Feierlichkeiten lautet „Im Himmel und auf Erden“. Jeder Tag der ‚langen‘ Liboriwoche wird einer besonderen Gruppe gewidmet – so wird zum Beispiel der letzte Sonntag als „Tag der Familie“ bezeichnet.

Ende Oktober wird in der Stadt „Herbstlibori“ gefeiert. Was hat es mit diesem zweiten Libori-Fest auf sich?

Diese Tradition geht auf Ereignisse während des Dreißigjährigen Krieges (1618 –1648) im Hochstift Paderborn zurück. Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel, auch der „Tolle Christian“ genannt (‚toll‘ im Sinne von ‚verrückt‘), gehörte zu den protestantischen Fürsten, die dem calvinistischen Kurfürsten von der Pfalz, Friedrich V., zur Seite standen. Im September 1621 wurde Christian zum Befehlshaber im Dienste Friedrichs ernannt. Mit einem stattlichen Heer wollte er durch den südöstlichen Teil des Hochstifts Paderborn und Hessen in die Pfalz ziehen. Der erste Durchzug verlief noch glimpflich. In Hessen stieß Herzog Christian aber auf ein Heer der katholischen Liga, das ihn zum Rückzug zwang. So fiel er am 30. Dezember 1621 in die Warburger Börde ein. Er stellte einigen Städten und Siedlungen Lösegeldforderungen. Am 31. Dezember fiel Lippstadt, wo Christian am 4. Januar 1622 einrückte. Es folgten zahlreiche Dörfer und die Stadt Soest. Nun richtete er seinen Blick auf Paderborn. Am 31. Oktober 1622 fiel Christian in Paderborn ein, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen.

Sein Quartier nahm der Herzog im verlassenen Jesuitenkolleg. Den Dom und andere Kirchen ließ er nach Wertgegenständen durchsuchen. Er raubte den Domschatz und die Libori-Reliquien. Den Schrein ließ er im benachbarten Lippstadt einschmelzen, die Reliquien führte er als Pfand mit sich. Sie konnten 1624 wieder ausgelöst und im Oktober 1627 feierlich in den Paderborner Dom zurückgeholt werden, nachdem für die Reliquien dort ein neuer – der bis heute verwendete – Schrein angefertigt worden war. In Erinnerung an dieses Ereignis wird seitdem jeweils Ende Oktober das Fest der Rückführung der Reliquien des heiligen Liborius gefeiert, auch „Herbstlibori“ oder „Kleinlibori“ genannt.

Der heilige Liborius wird nicht nur in Paderborn und in Le Mans verehrt, sondern an verschiedenen Orten weltweit. Wie erlangte er diese globale Bekanntheit?

Eine enge Verbindung mit Frankreich legt die Städtepartnerschaft zwischen Le Mans und Paderborn nahe. Im 17. und 18. Jahrhundert breitete sich die Liboriusverehrung in Frankreich und Italien aus. In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte ein zweiter Schub ein, der dann auch Amerika erreichte. 

Das Libori-Fest gewann nach dem Zweiten Weltkrieg an internationaler Bedeutung. Das Oberhaupt der katholischen Kirche von Le Mans nahm erstmals 1948 an den Liborifeierlichkeiten teil und ist seitdem jedes Jahr dabei. Die Wiederaufnahme der Kontakte zum französischen Le Mans entsprach dem allgemeinen Klima der Zeit. In den 1960er und 1970er Jahren traten parallel im weltlichen und kirchlichen Festprogramm europapolitische Entwicklungen immer stärker in den Vordergrund.

Interview: Simon Ratmann, Stabsstelle Presse und Kommunikation

Foto (Universität Paderborn): Prof. Dr. Nicole Priesching forscht und lehrt seit 2011 am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

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