„Die Würde des Menschen ist un­ant­ast­bar“

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Wie aber steht es heute – 70 Jahre später – um die im Grundgesetz verankerten Werte? Im Interview sprechen Uni-Präsidentin Prof. Dr. Birgitt Riegraf und Prof. Dr. Dieter Krimphove, Experte für Europäisches Wirtschaftsrecht, über Gleichberechtigung, Glaubensfreiheit und das Verhältnis zwischen deutscher und europäischer Rechtsprechung.

Gleichberechtigung sollte heutzutage längst gelebte Realität sein. Nach wie vor variieren aber die Gehälter von Männern und Frauen und auch bei Führungspositionen gibt es teilweise eklatante Unterschiede. Wo stehen wir heute in Sachen Gleichberechtigung und was sagt das über Artikel 3 aus?

Prof. Birgitt Riegraf: Der Artikel 3 des Grundgesetzes gehört zu den elementaren Verfassungsprinzipien. Der Artikel sagt schlicht und einfach, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und niemand aufgrund seiner sozialen Herkunft, seiner Religionszugehörigkeit etc. benachteiligt werden darf. Der Artikel sagt auch, dass sich jeder deutsche Staatsbürger und jede deutsche Staatsbürgerin auf politische Ämter bewerben kann. Der ursprüngliche Wortlaut des Absatz 2 des Artikels 3 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde am 27. Oktober 1994 um den Satz ergänzt „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. In dem Artikel bekennt sich das Grundgesetz zur aktiven Herstellung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen und übernimmt zugleich die Verantwortung für die Geschichte der Verfolgung und Ermordung von Minderheiten in der Vergangenheit.

Vieles an Gleichberechtigung konnte in den letzten 70 Jahren auf Grundlage des Artikels 3 erreicht werden! Sehen wir uns einmal die Entwicklungen in den Geschlechterbeziehungen genauer an: Bis 1977 brauchten Ehefrauen die Erlaubnis ihrer Ehemänner, wenn sie einer Erwerbsarbeit nachgehen wollten. Der Ehemann konnte die Arbeitsstelle seiner Frau ohne ihre Zustimmung einfach aufkündigen, wenn sie seiner Ansicht nach die „Führung des Haushalts“ vernachlässigte. Und erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Also erst seit 1997 fanden Ehefrauen vor den Übergriffen von Ehemännern rechtlichen Schutz: Ihre Rechte als Staatsbürgerinnen, ihr Recht auf Selbstbestimmung und Unversehrtheit haben sie bis dahin mit dem Eintritt in die Ehe faktisch abgegeben. Diese aus heutiger Sicht unglaubliche Situation ist erst 22 Jahre her. Den jüngeren Generationen sind diese Formen der Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern unvorstellbar, sie sind zum Glück mit einem ganz anderen Selbstverständnis aufgewachsen. Der Auftrag des Grundgesetzes in Fragen der Gleichberechtigung konnte in den letzten Jahrzehnten also teilweise umgesetzt werden. Wir sollten uns aber im Klaren darüber sein, dass der Auftrag keinesfalls selbstverständlich umgesetzt wurde, sondern die politischen Auseinandersetzungen darum mühselig waren und die Grundrechte gegen eine Reihe von Widerständigkeiten durchgesetzt werden mussten.

Ungeachtet all dieser Fortschritte in der Gleichberechtigung, gibt es aber immer noch einen eklatanten Widerspruch zwischen formaler Gleichberechtigung und ihrer vollständigen Umsetzung: Am deutlichsten zeigt sich dies gegenwärtig an den Entgeldungleichheiten zwischen den Geschlechtern und der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen. Trotz besserer Schulabschlüsse liegt der Gender Pay Gap in Deutschland bei 21%, d. h. der Bruttostundenlohn von Frauen liegt um diesen Prozentsatz unter dem der Männer. Der Gender Pay Gap in Deutschland ist einer der höchsten unter den Industrieländern. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir auch in Zukunft den Auftrag des Grundgesetzes für Gleichberechtigung ernst nehmen und für die Umsetzung dieses Rechtes in der Gesellschaft einstehen werden. In wenigen Jahren werden wir vermutlich kopfschüttelnd und ungläubig auf die jetzige ungleiche Situation zurückblicken.

Was sind die Gefahren und wo sind die Grenzen der Verfassungsgrundsätze von Glaubensfreiheit und Meinungsäußerung?

Prof. Birgitt Riegraf: Im Grundgesetz werden die Formen des alltäglichen Umgangs der Gesellschaftsmitglieder miteinander geregelt, diese Regeln haben wir uns selbst gegeben. Meinungs- und Glaubensfreiheit sind dabei ein hohes Gut in unserer Gesellschaft, das es gerade dann zu verteidigen gilt, wenn uns die vertretenen Ansichten nicht gefallen. Neben der Gleichberechtigung ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen eines der grundlegenden Verfassungsprinzipien. Formen der Verletzungen dieser Prinzipien sind nicht durch die Prinzipien der Glaubensfreiheit und Meinungsäußerung gedeckt. Dabei sind die Grenzen der Meinungsfreiheit nicht einfach zu bestimmen. Denn es sind gerade die provokanten und zugespitzten, die kontroversen und unbequemen Positionen, die über das Recht auf Meinungsfreiheit geschützt werden müssen. Die Grenzen des Rechts auf Meinungsfreiheit sind aber in solchen Fällen eindeutig überschritten, wenn einzelne Personen und ganze Gesellschaftsgruppen angegriffen und herabgewürdigt werden, wenn menschenverachtende und gewaltverherrlichende Positionen vertreten werden. Ein Aufruf zu Mord oder die Verherrlichung jeder Form der Gewaltanwendung gegenüber Personen und ganzen gesellschaftlichen Gruppen überschreiten die Grenzen des Rechts auf Meinungsfreiheit, da die Grundlagen der Verfassung eindeutig verletzt werden. Das Recht auf Glaubensfreiheit stößt dann an seine Grenzen, wenn die Glaubensgrundsätze die Freiheit der anderen Gesellschaftsmitglieder, diesem Recht nachzugehen oder das Recht keiner Glaubensgemeinschaften anzugehören, einschränken will.

Radikalisierung und Terror: Wie können Menschen, die sich von den Grundpfeilern der Demokratie entfernet haben, wieder für das Teilen gemeinsamer Werte zurückgewonnen werden?

Prof. Birgitt Riegraf: Tatsächlich beobachten Soziologen und Soziologinnen derzeit mit großer Sorge einen zunehmenden Verlust der Bereitschaft, sich mit anderen Lebensentwürfen und Positionen auseinanderzusetzen und diese auszuhalten. Erodiert diese Bereitschaft, dann sind wichtige Grundlagen der Demokratie bedroht und die Gefahr der Radikalisierung wächst. Das Internet befördert die Tendenz der Radikalisierung: Das Netz erleichtert es, sich in „Echokammern“ zurückzuziehen, sich also lediglich mit den Gleichgesinnten zu vernetzen, die einen immer wieder in den eigenen Positionen bestärken. Infragestellungen der eigenen Positionen finden dann kaum noch statt und dies befördert Radikalisierungen. Als Gesellschaft müssen wir hier hoch sensibel sein und erst Umgangsregeln damit entwickeln und deutliche Grenzen ziehen. Gerade die Universitäten haben die Aufgabe, Radikalisierungen durch Aufklärung vorzubeugen, ihnen in ihrer Arbeit in Forschung, Studium und Lehre sowie beim Wissenstransfer eindeutig entgegenzutreten.

Herr Krimphove, Artikel 23 zielt auf ein vereintes Europa ab. Die Rechtsordnung der EU gilt auch in deren Mitgliedsstaaten und hat Vorrang gegenüber nationalem Recht. Steht EU-Recht damit über dem Grundgesetz?

Prof. Dieter Krimphove: Das Europarecht steht in der Tat – wie Sie sagen – über dem Grundgesetz und damit auch über seinen Grundrechten und -werten. Diese politisch wie rechtlich bedeutende Aussage hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner umfangreichen „Solange“-Rechtsprechung eingesehen. „Solange" heißen die Entscheidungen, weil in ihnen das BVerfG festgestellt hat, dass die deutschen Grundrechte „solange“, trotz des Vorranges des Europäischen Rechts, gelten, bis die Europäische Union eine eigene Verfassung mit eigenen Grundrechten hat. Zu einer Europäischen Verfassung ist es nicht gekommen, dennoch verfügt die Europäische Union seit dem 12.12.2007 über eine eigene Grundrechtsordnung, nämlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Deren Grundrechtekatalog hat große Ähnlichkeit mit dem des deutschen Grundgesetzes. Allerdings sind die Normen der EU Grundrechtscharta ähnlich weit und offen formuliert wie die deutschen Grundrechte. Gleich zwei europäische Gerichte, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg und seit dem Lissabonner Vertrag auch der EuGH in Luxemburg, legen die europäischen Grundrechte aus. Dabei kommt es zu geringfügigen inhaltlichen Unterschieden zu den deutschen Grundrechten. Dies wird im Rahmen des Rechts der Gleichbehandlung von Frauen und Männern gelegentlich besonders deutlich.

Inwiefern spielt Globalisierung eine Rolle für das Grundgesetz?

Prof. Dieter Krimphove: Dies ist eine wunderbare rechtsphilosophische Frage. Natürlich ist der Gedanke der Globalisierung – mehr oder weniger deutlich – seit der Neuzeit bekannt. In anderen Verfassungen – insbesondere in jenen, die intensiven Kolonialismus betrieben haben – gibt es greifbare Ansätze der Globalisierung. Die Väter des Grundgesetzes haben allerdings bei seiner Schaffung andere Sorgen und Fragestellungen bearbeitet als die der Globalisierung. Ihnen ging es insbesondere darum – in Abkehr von einem totalitaristischen Zentralstaat – ein Machtgleichgewicht zwischen dem Bund und den Bundesländern zu schaffen. An eine Globalisierung – und schon gar nicht in der Weise wie wir sie heute verstehen – wurde dabei wirklich nicht gedacht. Dennoch enthält unser Grundgesetz vereinzelt Normen, die sich etwa mit der Außenvertretung Deutschlands und seiner Mitgliedschaft in internationalen Organisationen befassen. Diese lassen sich, wenn Sie so wollen, als ein bescheidener Globalisierungsansatz unseres Grundgesetzes interpretieren. Globalisierung, wenn ich so sagen darf, erfolgt also nicht durch das Grundgesetz selbst, sondern durch das Engagement Deutschlands in internationalen Organisationen wie etwa EU oder UNO, was dieses Grundgesetz zulässt.

Die Fragen stellte Nina Reckendorf von der Stabsstelle Presse und Kommunikation der Universität.

 

Foto (Universität Paderborn): Prof. Dr. Dieter Krimphove.
Foto (Universität Paderborn): Uni-Präsidentin Prof. Dr. Birgitt Riegraf.

Contact