Interview zum anstehenden 80. Jahrestag der Novemberpogrome
Brennende Synagogen, zerstörte Geschäfte und Häuser, Tote, inhaftierte, verletzte und gedemütigte Menschen: Deutschland am 9. und 10. November 1938. In Kürze jähren sich die Pogrome an Deutschen jüdischen Glaubens zum 80. Mal. Wurden sie gezielt vom NS-Regime geplant und wie verliefen sie? Wie reagierte die nichtjüdische Bevölkerung? Und mit welchen Formen von Antisemitismus haben wir es heute in der Bundesrepublik zu tun? Antworten von Dr. Sebastian Bischoff, Zeithistoriker an der Universität Paderborn.
Herr Bischoff, Antisemitismus und Rassismus waren Grundpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie. Von der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 bis zum November 1938 gab es in Deutschland bereits zahlreiche Gewalttaten gegen Menschen jüdischen Glaubens. Auch wurden sie mit landesweiten Aktionen wie dem Boykott jüdischer Geschäfte im Frühjahr 1933 oder Gesetzen wie den „Nürnberger Gesetzen“ vom September 1935 systematisch diskriminiert und entrechtet. Wurden die Pogrome vom November 1938 ebenfalls gezielt durch das NS-Regime vorbereitet?
Bischoff: Ja, die landesweite Terrorwelle des November 1938 wurde zentral von oben angeordnet und dann von SA-, NSDAP- und Hitlerjugend-Mitgliedern oder der Polizei und Feuerwehr durchgeführt. Jedoch fand keine langfristige Planung statt. Die Pogrome wurden recht kurzfristig veranlasst – kaschiert als angeblich spontane Vergeltungsaktion der deutschen Bevölkerung auf die Ermordung des deutschen Legationssekretärs Ernst Eduard vom Rath durch einen Polen jüdischen Glaubens am 9. November 1938 in Paris. Aber zugleich können die Pogrome natürlich nur im Kontext der jahrelangen Entrechtung der jüdischen Bevölkerung gesehen werden. Sie stellen den Beginn der offenen Vernichtungspolitik im Deutschen Reich dar.
Was genau ereignete sich am 9. und 10. November 1938 im Deutschen Reich und was geschah in Paderborn?
Bischoff: Meist in den Morgenstunden des 10. November 1938 wurden über 1.400 religiöse jüdische Einrichtungen zerstört, hunderte Juden ermordet und viele Tausend misshandelt. Dazu kam die massenhafte Plünderung von jüdischen Geschäften, an denen sich die gesamte Bevölkerung beteiligte. Es folgte die zehntausendfache Verschleppung von Menschen jüdischen Glaubens in Konzentrationslager.
In Paderborn zogen am 9. November SS-Angehörige durch die Straßen, randalierten, plünderten und nahmen zahlreiche Juden fest. Die Synagoge wurde hingegen erst einen Tag später, am 10. November nachmittags, angezündet, denn die Feuerwehr hatte befürchtet, dass der Brand auf das benachbarte Vincenz-Krankenhaus übergreifen könne und forderte vorher eine Evakuierung der Patienten. Tausende schauten zu, darunter auch der Paderborner Bürgermeister, während sich der Stadtbaurat Dr. Keller sogar aktiv beteiligte. Infolge der Ereignisse wurden dann 62 Paderborner und Salzkottener Juden ins KZ Buchenwald verschleppt.
Wie reagierte die nichtjüdische Bevölkerung?
Bischoff: Ob die Paderborner eher zustimmend oder ablehnend waren, lässt sich nicht genau sagen. Es gibt aber Zeugnisse der Ablehnung durch prominente Paderborner wie zum Beispiel den Erzbischof. Die Spannbreite der Reaktionen der Bevölkerung jenseits der NSDAP und ihrer Gliederungen reichte allgemein im Reich von distanziertem Zuschauen bis hin zu begeisterter Beteiligung. Die Feuerwehr- und Polizeieinheiten sorgten dafür, dass die Pogrome „ordnungsgemäß“ abgehalten wurden und kümmerten sich meistens nur darum, dass die Flammen nicht auf andere Gebäude übergriffen. Es sind nur wenige Fälle von Zivilcourage dokumentiert. Der Historiker Wolfgang Benz weist z. B. auf den Berliner Polizisten Wilhelm Krützfeld hin, der die SA von der Synagoge in der Oranienburger Straße verjagte. Außer einer Rüge des Vorgesetzten gab es für ihn keine negativen Konsequenzen, was die Frage, inwieweit dissidentes Verhalten im Nationalsozialismus möglich war, um ein interessantes Beispiel bereichert. Zugleich macht dieses Beispiel klar, dass sehr viele Bürger mit den Pogromen einverstanden waren.
Können die Verbrechen des November 1938 als ein Schritt hin zum Holocaust verstanden werden?
Bischoff: Unbedingt. Niemand konnte danach noch behaupten, nicht gewusst zu haben, was mit Mitbürgern jüdischen Glaubens geschehen sollte. Der Historiker Dan Diner nannte die Novemberpogrome „die Katastrophe vor der Katastrophe“. Sie stellten den Beginn einer Entgrenzung der Gewalt dar. Zugleich muss man bei Entwicklungslinien und „Schritten hin zu etwas“ in der Geschichte immer vorsichtig sein. Geschichte ist nie linear und zwangsläufig, sondern wird von Menschen gemacht. Wären die Reaktionen aus der Bevölkerung auf diese Aktionen sehr negativ gewesen und hätten die nationalsozialistische Herrschaft destabilisiert – der Holocaust wäre vielleicht nicht der „nächste Schritt“ gewesen.
Was ist in diesem Jahr zum Gedenken an die Pogrome in Paderborn geplant?
Bischoff: Der Arbeitsbereich Zeitgeschichte an der Universität Paderborn hat zusammen mit der Jüdischen Kultusgemeinde Paderborn, der Wewelsburg, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und dem Kulturamt der Stadt eine Reihe von Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Pogrome initiiert. Unter dem Zitat „Wer kennt sich in Finsternissen aus?“ der in Paderborn geborenen und aufgewachsenen Schriftstellerin Jenny Aloni und dem Titel „80 Jahre Pogromnacht / Gemeinsam gegen Antisemitismus“ werden von Mitte Oktober bis Anfang Dezember über 30 Ausstellungen, Lesungen, Stadtrundgänge und andere Veranstaltungen im Raum Paderborn und Höxter stattfinden.
Was erhoffen Sie sich von der Veranstaltungsreihe?
Bischoff: Ich hoffe, dies ist ein Auftakt zur intensivierten Beschäftigung auch mit aktuellem Antisemitismus, denn er gehört in Deutschland und der Welt leider nicht der Vergangenheit an. Er kommt von vielen Seiten und man hat es mit unterschiedlichen Argumentationen zu tun: Auf der einen Seite findet man den traditionellen Antisemitismus der extremen Rechten, die – wie der AfD-Landtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon es tut – den Eindruck erweckt, die Zahl der sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden wäre vielleicht doch viel kleiner gewesen. 17 Prozent der AfD-Anhänger sagen nach einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Allensbach vom August 2018, dass sie nicht gern neben Juden wohnen würden, während das nur drei Prozent der restlichen deutschen Bevölkerung so sehen. 55 Prozent der AfD-Anhänger behaupten, Juden hätten „weltweit zu viel Einfluss“. Diesen Aussagen stimmen wiederum sicher auch Anhänger des islamistischen Antisemitismus zu – ein Beispiel, wie nah sich extreme Rechte und Islamismus in vielen Punkten sind. Andere Beispiele sind die Übereinstimmungen in der Homo- und Transphobie oder den weiblichen Rollenvorstellungen. Leider wird den zahlreichen Projekten gegen den islamistischen Antisemitismus, wie zum Beispiel „Heroes“ in Duisburg oder „KIGA“ in Berlin, noch immer nicht die nötige Wertschätzung entgegengebracht.
Neben dem traditionellen und dem islamistischen Antisemitismus gibt es schließlich den Antisemitismus der Mitte, der sich im „Sekundären Antisemitismus“ einerseits aus Schuld- und Erinnerungsabwehr gegenüber dem Holocaust speist – umso wichtiger also, sich mit diesem weiterhin historisch auseinanderzusetzen. Andererseits richtet sich der Antisemitismus, der aus der Mitte der Bevölkerung kommt, meistens gegen den jüdischen Staat – und der Hass gegen Israel, der an die israelische Politik Doppelstandards anlegt und den Staat delegitimiert und dämonisiert, findet sich durchaus auch bei der politischen Linken wieder. Antisemitismus ist offenbar en vogue, wenn man die Debatten über antisemitische Gedankengebäude im Deutsch-Rap oder das auf Schulhöfen allgegenwärtige Schimpfwort „Jude“ betrachtet.
Was es bräuchte, wäre eine verstärkte Anstrengung gerade in den Bildungsinstitutionen, um dieser Gefahr, die sicherlich vorrangig Menschen jüdischen Glaubens trifft, aber auch einen Angriff auf das gesamte demokratische Miteinander darstellt, entgegenzutreten. Wir hoffen, dass unsere Veranstaltungsreihe viele Menschen inspiriert! Das Programm findet sich unter: https://80jahrepogrom.jgpb.de/events
Interview: Simon Ratmann, Stabsstelle Presse und Kommunikation