„Sta­bile De­mokra­tien brauchen eine soziale Basis“

 |  Forschung

Der 15. September wird international als Tag der Demokratie gefeiert, 2007 von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen. Aber wie steht es angesichts aktueller Entwicklungen um die „Herrschaft des Volkes“? Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, Bildungssoziologin an der Universität Paderborn, spricht im Interview über Politikversagen, zweifelhafte Wahlerfolge und wissenschaftsfeindliche Tendenzen.

Frau Kohlrausch, Sie untersuchen den Zusammenhang zwischen (politischen) Einstellungen und sozialer Lebenslage. Wie sieht der aus?

Das politische System der Bundesrepublik Deutschland hat mit dem Einzug der AfD in den Bundestag und in viele Landesparlamente in den letzten Jahren eine massive Umwälzung erfahren. Meine Forschung beschäftigt sich mit der Frage, warum Menschen die AfD wählen. Inzwischen kann ich zeigen, dass Abstiegsängste, zum Beispiel die Sorge um die finanzielle Absicherung im Alter, mittlerweile bis weit in die Mittelschichten hineinreichen. Diese Ängste wiederum sind ein wichtiger Treiber der AfD-Wahl. Das zeigt, dass stabile Demokratien eben auch eine soziale Basis brauchen. Auch soziale Ungleichheit kann die Demokratie gefährden.

Das Vertrauen in Politik und den Staat sinkt. Immer häufiger ist von Politikversagen die Rede. Findet bald eine (Ab)Spaltung der Gesellschaft statt?

Tatsächlich gibt es ein ausgeprägtes Misstrauen in die politischen Institutionen in Teilen der Bevölkerung. Wenn es nicht bald gelingt, diese Leute zurückzuholen, kann es passieren, dass sie sich dauerhaft gegen die Demokratie stellen. Noch würde ich aber von einer Abspaltung nicht sprechen. Das Misstrauen in die politischen Institutionen lässt sich zumindest teilweise auch mit der sozialen Lage der Bevölkerung erklären. In vielen sozialen Bereichen, zum Beispiel der Wohnungspolitik, erleben die Menschen einfach nicht mehr, dass der Staat, dass Politik, funktioniert. Vor diesem Hintergrund funktioniert auch das rechtspopulistische Narrativ des vermeintlichen politischen Kontrollverlustes im Umgang mit den steigenden Zahlen von Asylsuchenden in den Jahren 2015 und 2016.

Nicht nur in Deutschland erleben rechtspopulistische Parteien Wahlerfolge. Woran liegt das?

Das hat vielfältige Gründe, die sich von Land zu Land unterscheiden. In den osteuropäischen Ländern spielt u. a. sicherlich die Frage eine Rolle, inwieweit die demokratische Transformation der Länder nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gelungen ist. Manche europäischen Länder leiden immer noch an den Folgen der Finanzkrise. In vielen Ländern hat soziale Ungleichheit zugenommen. Auch lässt sich in vielen Gesellschaften eine Spaltung entlang kultureller Fragen feststellen. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Gesellschaften diverser geworden sind. Hierbei spielt auch die Migration eine Rolle. Es lässt sich allerdings nicht pauschal sagen, dass eine hohe Migration automatisch mit einem höherem Zuspruch zu neurechten oder rechtspopulistischen Gesinnungen einhergeht.

In der Wissenschaft spricht man von „neurechten Ideologien“. Was macht die aus?

Neurechte Ideologien zeichnen sich durch mehrere Merkmale aus. Dazu gehören der Kampf gegen das Diktat einer vermeintlichen politischen Korrektheit, religiöse und kulturelle Stereotype – insbesondere im Hinblick auf den Islam, die nationalistische Betonung einer kulturellen Identität verbunden mit der Betonung einer Leitkultur mit „typisch deutschen Tugenden“ wie Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit sowie normative Familien- und Gesellschaftsbilder. Populistische Ideologien haben außerdem gemein, dass sie einen Antagonismus zwischen dem einfachen und ehrlichen Volk und einer abgehobenen und korrupten Elite formulieren.

Inwieweit bedrohen derartige Tendenzen auch die Wissenschaft?

In einigen Ländern, in denen Rechtspopulisten regieren, zum Beispiel Ungarn, wird die Freiheit von Forschung und Lehre eingeschränkt. Auch in Deutschland werden bestimmte Forschungsrichtungen wie zum Beispiel die Genderforschung massiv von Rechtspopulisten angegriffen. In den USA werden sogar wissenschaftliche Erkenntnisse als „alternative Fakten“ abgetan.

Welchen Beitrag kann die Wissenschaft zur Aufrechterhaltung der Demokratie leisten?

Indem sie ihre fundierten Erkenntnisse mit der Gesellschaft, mit der Öffentlichkeit, teilt und klar herausstellt, welchen Nutzen sie für die Menschen hat. Und zwar auch und insbesondere abseits des reinen wissenschaftlichen Milieus. Bildung und Aufklärung sind die wichtigsten Faktoren einer funktionierenden Gesellschaft.

Das Interview führte Nina Reckendorf, Stabsstelle Presse und Kommunikation der Universität Paderborn.

Foto (Universität Paderborn, Johannes Pauly): Zum Welttag der Demokratie erklärt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wie die aktuelle Lage in Deutschland und anderen Ländern aussieht.
Prof. Dr. Bettina Kohlrausch im Interview.

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