1517 haben die Thesen Martin Luthers die Welt verändert. Die Spaltung des Christentums, aber auch konfessionelle Kriege zwischen Katholiken und Protestanten sowie die Trennung von Staat und Kirche und der Bildungsschub durch die angestoßene Alphabetisierung – die Rolle der Reformation ist bislang einzigartig. Heute – 500 Jahre später – wird das Reformationsjubiläum ökumenisch begangen. Prof. Dr. Nicole Priesching, Leiterin des Instituts für Katholische Theologie der Universität Paderborn, erklärt im Interview, wie wichtig die Werte und Errungenschaften der Reformationen auch heute noch sind.
Frau Priesching, am 31. Oktober wird weltweit das Reformationsjubiläum gefeiert. Damit wird auch an Zeiten des Umdenkens und der Veränderung erinnert. Aktuell befinden wir uns wieder in einer Zeit des Umbruchs, denkt man an die Entwicklungen in der Weltpolitik oder an den Gedanken eines geeinten Europas. Welcher Werte, die die Reformation hervorgebracht hat, sollten wir uns gerade jetzt erinnern? Welche Werte sind für unser modernes Zeitalter noch immer wegweisend?
Zunächst einmal sollten wir uns daran erinnern, dass nicht die Reformation allein der Motor unserer Geschichte wurde, sondern das Mit- und Gegeneinander von mindestens drei Konfessionen (evangelisch-lutherisch, evangelisch-reformiert, römisch-katholisch), die im Laufe des 16. Jahrhunderts entstanden sind. Die Kontroversen zwischen ihnen haben auch das Nachdenken über das Christsein vorangetrieben. Heute kann eine römisch-katholische Theologie freimütig erklären, von den Impulsen der Reformation zu profitieren und umgekehrt. Auch in unserem modernen Zeitalter ist es wichtig, die Gottesfrage neu in das gemeinsame Gespräch zu bringen. Gleichzeitig müssen wir uns selbstkritisch prüfen. Zur Erinnerung an 500 Jahre Reformation gehört auch die Erinnerung an die Opfer religiös motivierter Gewalt: Kriege, Vertreibungen, Hinrichtungen im Namen Gottes. Die Kirchen beklagen heute gemeinsam, dass sich der Antijudaismus in ihnen auf verheerende Weise entfalten konnte. Mit der Reformation setzte eine Akzentverschiebung zur Hervorhebung des Priestertums aller Getauften ein. Es gibt eine gemeinsame Würde und Verantwortung aller Glaubenden für das kirchliche Leben und für die Welt, in der wir leben. Dies gilt es immer wieder neu zu entdecken.
Was sagt es aus, dass das Jubiläum ökumenisch begangen wird und nicht wie bisher konfessionell getrennt und wie bewerten Sie das? Besonders vor dem Hintergrund, dass den Kirchen die Mitglieder ausgehen.
Das Jubiläum 2017 ist das erste, bei dem es möglich wurde, in der ökumenischen Weite der christlichen Konfessionen auf den Prozess der Reformation zu blicken, auf ihre Erträge, Grenzen und Gefahren. Das ist historisch zu würdigen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat im Ökumenismusdekret „Unitatis redintegratio“ vom 21. November 1964 betont, dass Jesus uns zur Einheit der Christen aufruft, was besonders im Johannesevangelium, aber auch in den paulinischen Briefen zum Ausdruck kommt. Von daher ist es ein Grund zur Freude, wenn ein Reformationsjubiläum nicht mehr zur Selbstvergewisserung der Trennungsgründe dient, sondern ökumenisch begangen wird. Dass so viele Menschen aus den Kirchen austreten, ist freilich eine neue Herausforderung. Vielleicht könnte das ökumenische Gedenken einen Impuls setzen, auch hier den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, uns nicht im Namen der Wahrheit gegenseitig zum Verstummen zu bringen, sondern das Gemeinsame unseres christlichen Glaubens in den Vordergrund zu stellen. Ringen wir weiter und versuchen wir, uns gegenseitig mit Argumenten zu überzeugen.
Ist es für Katholiken denn überhaupt ein Anlass zum Feiern, dass sich Menschen von deren Konfession gelöst und eine reformierte Glaubensrichtung begründet haben?
Die Entwicklung hin zu Konfessionen fand erst nach der Reformation statt. Davor existierte ein lateinisches Christentum in Europa: eine Religion, noch keine Konfession. Die Geschichte der reformatorischen Kirchen beginnt ja nicht mit der Reformation, sondern sie führen sich wie alle Konfessionen auf Jesus Christus zurück und sind so in ihrem Geschichts- und Traditionsverständnis gleich alt. Sich gegenseitig weiterhin Abspaltung von der wahren Kirche vorzuwerfen, bringt uns nicht weiter. Da gäbe es auch nichts zu feiern. Die Reformatoren wollten keine neue Kirche gründen, sondern ihre eigene Kirche reformieren. Dass dennoch diese Einheit im 16. Jahrhundert zerbrochen ist, war ein komplexer Vorgang, an dem nicht nur eine Seite oder gar einzelne Personen schuld waren. Insofern ist diese Seite des Reformationsgedenkens eher von einer gemeinsamen kritischen Erinnerung geprägt, die auch Raum gibt, den Schmerz über Versagen und Verletzungen, Schuld und Sünde in den Personen und Ereignissen, die erinnert werden, wahrzunehmen. Auf der anderen Seite gibt es auch für uns so viel an den reformatorischen Anliegen zu würdigen, dass wir Katholiken gern mitfeiern.
Wie zeitgemäß ist die katholische Kirche noch? Viele Sichtweisen gelten doch heutzutage als antiquiert. Was könnte aus Ihrer Sicht reformiert werden?
Weil etwas als antiquiert gilt, ist es das noch nicht. Wir haben uns auch angewöhnt, nur noch das Negative wahrzunehmen und alle positiven Bemühungen kleinzureden. Dass sich die Kirche immer reformieren muss, ist ihr eigener Anspruch. Papst Franziskus kann hier wohl als glaubwürdiger Vertreter einer solchen Grundhaltung gelten. Aber wenn man die Überzeugung von dem in Glaube und Taufe begründeten Priestertum aller Christen einmal ernst nimmt, dann ist auch klar, dass sich nicht jeder mit seinen Anliegen durchsetzen kann. Ohne eine gewisse Toleranz, gerade wenn die Wertschätzung der anderen Meinung oft zu schwierig erscheint, kann eine Gemeinschaft von ganz unterschiedlichen Menschen nicht funktionieren. Da geht es der Kirche nicht anders als dem Rest der Gesellschaft. Wenn man genauer hinsieht, merkt man auch, dass in der katholischen Kirche schon viel Pluralität Platz hat, Kirche auch stets um das Individuum bemüht ist. Es ist also höchst zeitgemäß angesichts der Pluralisierung und Individualisierung unserer Lebensverhältnisse, wenn um Reformen immer wieder mühsam gerungen wird, aber auch von allen Kompromisse gemacht werden müssen. Wenn Kirche dazu ermutigt und Raum gibt, ist sie auf dem richtigen Weg.
Der 31. Oktober gilt als DER Reformationstag. Allerdings haben verschiedene Ereignisse über Jahre hinweg den Umbruch eingeläutet. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein derartiges Ereignis nochmal passieren könnte, wenn auch in abgemilderter Form? Quasi eine moderne Reformation?
Wie Sie bereits sagen, liegt der „Umbruch“, wenn Sie das Epochemachende der Reformation damit meinen, nicht in einem einzigen Ereignis, das gar auf den 31. Oktober 1517 zu datieren wäre. Es sind vielschichtige historische Prozesse, die sich in manchen Etappen verdichten und die dann in der Erinnerung zu einem symbolischen Datum gerinnen. Einen Überblick über die gegenwärtigen Umbruchsprozesse kann wohl kaum jemand geben. So viel passiert gleichzeitig, was wir nicht überblicken und von dem wir schlicht auch keine Ahnung haben. Was sich davon wiederum längerfristig durchsetzen wird und ob es dann wieder ein Ereignis geben wird, in dem diese Entwicklungen in der Rückschau auf den Punkt gebracht werden, kann man noch weniger vorhersehen. Die Geschichte der Kirche bleibt jedenfalls spannend. Und selbst wenn sich Dinge scheinbar wiederholen, so sind sie doch jedes Mal wieder ganz anders.
Interview: Nina Reckendorf