Kompositionen mit dem Computer archivieren und analysieren: Geisteswissenschaftler und Informatiker schaffen neuartige Zugänge zur musikalischen Überlieferung
Orchesterprobe: Die Musiker haben vor sich keine Notenblätter, sondern Tablets liegen. Der Dirigent trägt auf seinem Bildschirm einen neuen Akzent ein, der automatisch in allen Orchesterstimmen landet und in den Noten des aufnehmenden Tonmeisters rot aufblinkt. – Das klingt nach Zukunftsmusik, ist aber nicht mehr weit von der Realität entfernt: In Ostwestfalen-Lippe arbeiten Musik- und Medienwissenschaftler gemeinsam mit Informatikern im Kompetenzzentrum „Musik – Edition – Medien“ (ZenMEM) an einer Software, mit der nicht nur Noten digital erfasst und bearbeitet werden können. Sie ist auch eine Revolution in der Geschichte der Musikedition.
Mit der weltweit konkurrenzlosen Software „Edirom“ wollen die beteiligten Forscherinnen und Forscher der Universität Paderborn, der Hochschule für Musik Detmold und der Hochschule Ostwestfalen-Lippe die Ergebnisse der Erforschung musikalischer Überlieferung ins digitale Zeitalter überführen – und damit auch Wissenschaft und Praxis weiter zusammenführen. Wurden bisher diese Ergebnisse in gedruckten Notenbänden publiziert, sollen die Standards neu gesetzt und traditionelle Editionen zu global verknüpften digitalen Wissensarchiven erweitert werden. „Noch nie konnten Musikwerke und ihr Kontext so umfassend und multimedial zugänglich gemacht werden. Das Potenzial ist unerschöpflich: Wir können unterschiedliche Fassungen und Varianten, Tonaufnahmen, Bild- oder filmisches Material sowie vielfältigste Dokumente zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte integrieren“, erklärt Prof. Joachim Veit als Sprecher des ZenMEM.
Mit der Software von Takt zu Takt springen
So ein Online-Archiv sei für Musikwissenschaftler nicht nur ein Traum, weil sie losgelöst von Zeit und Raum auf das Material zugreifen und gemeinsam forschen können. „Die Digitalisierung der Noten erleichtert den akribischen Vergleich historischer Quellen enorm und eröffnet ganz neue Möglichkeiten, um dem Wandel der Überlieferung nahe zu kommen“, so Joachim Veit. Hatte der Musikwissenschaftler bislang Kopien der unterschiedlichen Fassungen einer Sinfonie oder Oper – und das können auch mal zehn oder mehr sein – auf dem Schreibtisch verteilt, kann er mit der Software jetzt direkt zum gewünschten Takt springen, die auf dem Bildschirm vereinten Fassungen vergleichen, online mit anderen Wissenschaftlern diskutieren und Unterschiede in einer vom Computer umsetzbaren standardisierten Sprache festhalten. Änderungen, die der Komponist an Noten, Betonungen oder Übergängen vorgenommen hat, werden per Mausklick direkt hörbar.
Dem Forscherteam ist es dabei besonders wichtig, nicht nur Wissenschaftlern weltweit, sondern auch praktischen Musikern, z. B. Dirigenten, die Arbeit künftig zu erleichtern: Sie bekommen einfacheren Zugang zu den Quellen und können ihre Interpretation Takt für Takt mit überlieferten Versionen vergleichen. Ihre Eintragungen im Notenmaterial können sie automatisch vom Computer für die verschiedenen Orchesterstimmen umsetzen lassen – zuvor eine aufwändige manuelle Prozedur.
Schon jetzt sind die fast 20 beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen international gefragte Experten für Musikverlage und -bibliotheken: Sie bieten Beratungen, Schulungen und Kooperationen an. Mit der Weiterentwicklung von Technologien für die Erfassung und Analyse nicht-textueller Daten, vor allem Noten, hat ihre Arbeit Alleinstellungscharakter: Vom Bundesbildungsministerium wird das ZenMEM daher als eines von deutschlandweit nur drei neuen Zentren für Digitale Kulturwissenschaften mit 1,7 Millionen Euro gefördert. Ein wichtiger Fokus liegt dabei auch auf der Ausbildung: Geplant ist der Aufbau eines Masterstudiengangs Digital Humanities.
Text: Frauke Döll
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