Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurden Menschen so alt: Von 1900 bis 2010 verdoppelte sich die Lebenserwartung in Deutschland von 40 auf 80 Jahre. Zurzeit steigt sie jährlich um drei Monate. Gleichzeitig werden immer weniger Kinder geboren. Diese demografische Entwicklung stellt den Sozialstaat vor Herausforderungen, die er ohne bürgerschaftliches Engagement kaum bewältigen kann. Hier ist besonders die Generation 60plus gefragt. Diese wollen die Paderbornerin Birgitt Lammert und der Bonner Peter Schneider für INA gewinnen. Die Initiative Neue Alterskultur wird am Freitag, 6. Juli, erstmals im Rahmen einer für alle Interessierten offenen Veranstaltung vorgestellt: Um 14 Uhr im Hörsaal B1 der Universität. Denn Paderborn kann laut Birgitt Lammert die „Keimzelle“ sein für das innovative Projekt, das bundesweit und parteiunabhängig „auf allen politischen Ebenen mitgestalten“ will, in einer Kultur der Freiheit, festgeschrieben in unserem Grundgesetz.
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Die Bertelsmann-Stiftung mit Sitz in Gütersloh hat jüngst erhoben, dass die Einwohnerzahl in Ostwestfalen-Lippe bis 2030 um mehr als fünf Prozent abnehmen wird. Ein Durchschnittswert. Der Kreis Höxter muss mit einem dramatischen Bevölkerungsschwund von 16 Prozent rechnen. Der Kreis Paderborn hingegen ist die einzige Region in OWL, die einen Zuwachs zu erwarten hat: plus 1,8 Prozent. Das sei vor allem dem für junge Menschen attraktiven Oberzentrum Paderborn zu verdanken. „Dass meine Heimatstadt eine relativ junge Stadt bleiben wird, ist auch ein Grund, der uns dazu bewogen hat, sie als INA-Keimzelle auszusuchen“, sagt Birgitt Lammert. „Wir wollen ja keine Verschwörung der vielen Alten gegen die wenigen Jungen anzetteln oder einen Krieg der Generationen führen. Im Gegenteil. Wir möchten eine neue Qualität und ein neues Bewusstsein für dieses neue Alter schaffen. Generationsübergreifend und interkulturell möchten wir diesen Weg zukünftig gemeinsam gehen und einen Denkmusterwechsel erreichen, bei all dem, was die demografische Entwicklung an gesellschaftlicher und politischer Verantwortungsübernahme von uns einfordert“
Paderborn hat sich früher als andere Städte für den demografischen Wandel gewappnet: u. a. als eine von 15 Modellstädten im NRW-Programm EFI (Erfahrungswissen für Initiativen). Dieses Programm richtet sich an Menschen nach Berufs- oder Familienzeit, die die Robert-Bosch-Stiftung in ihrer Ausschreibung für den Deutschen Alterspreis 2012 „Unruheständler“ nennt. Will meinen: Individualisten, die freiwillig und selbstverantwortlich als „Business-Angels, Lesepaten, Entwicklungshelfer, Ausbildungspaten oder Wunschomas“ agieren oder sich ehrenamtlich in traditionellen Angeboten verschiedenster Wohlfahrtsorganisationen betätigen.
Birgitt Lammert, die für den Deutschen Engagementpreis 2012 wegen ihrer vorbildlichen Netzwerk-Arbeit nominiert ist, war eine der ersten „EFIS“(Bundes-Modellprogramm Erfahrungswissen für Initiativen) in Paderborn. Mit Unterstützung der Stadt gründete sie den Marktplatz für Bürger-Engagement – eine Plattform für alle Belange bürgerschaftlichen Engagements im Historischen Rathaus.Darüber hinaus agiert Lammert als Koordinatorin zwischen Bürgerengagement der Stadt Paderborn und der Universität. Diese offeriert im Rahmen des Gasthörer-Studiums für Ältere einen Zertifikatsstudiengang, der mit wissenschaftlichem Ansatz Unruheständler als Initiatoren und Manager für bürgerschaftliche Arbeit qualifiziert.
Der Paderborner Hochschulbeauftragte für das Studium für Ältere für die Zielgruppe 60plus ist der emeritierte Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Schneider. Er hat seit 2007 den Zertifikatsstudiengang „Bürgerschaftliche Kompetenz in Wissenschaft und Praxis“ an der Universität Paderborn aufgebaut. Zurzeit leitet er das Forschungsprojekt Neue Alterskultur an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Zusammen mit Birgitt Lammert hob er Anfang 2012 INA aus der Taufe. Wenn es darum geht, was auf alle Altersgruppen zukommt, ist er, Lammert zufolge, einer der Wenigen, die Tacheles reden. Zum Beispiel über „eine drohende Altersarmut ungeahnten Ausmaßes“. Diese werde nicht allein durch den demografischen Wandel verursacht, dem die Rentenkassen nicht gewachsen sind, schreibt Professor Schneider in einem Aufsatz: „Vollends kontraproduktiv ist die exzessive Schuldenpolitik unter dem Vorzeichen der EU und des Euro; durch gewollte Inflation bestraft sie diejenigen, die durch Sparen für ihr Alter vorgesorgt haben.“ Mit Blick auf junge Menschen fügt er hinzu: „Oder dies tun wollen.“ Das bedeutet auch einen neuen Generationenvertrag und finanzielle Verantwortungsübernahme politischer Akteure.
So schließe sich der Kreis zwischen Alt und Jung, sagt Birgitt Lammert. Mit der Initiative für Neue Alterskultur wollen sie und Peter Schneider Ältere dazu bewegen, sich auf die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Gesellschaft einzulassen und aktiv Verantwortung zu übernehmen und mitzugestalten im Miteinander von Alt und Jung. „INA bedeutet gesellschaftspolitische Teilnahme, Teilhabe und Teilgabe von unten nach oben.“
INA – was ist das?
Der historisch einmalige demografische Wandel erfordert eine ganz neue Qualität und ein neues Bewusstsein für eine „Neue Alterskultur“ und hierin besonders für bürgerschaftliches Engagement. Zu diesem Ergebnis kommen alle namhaften Bevölkerungswissenschaftler und Demografieforscher, denn:
Der traditionelle Sozialstaat wird die Aufgaben der Daseinsvorsorge und Fürsorge nicht mehr bewältigen können. Die Fachleute verurteilen die Reaktionen der Politik als Sammelsurium von „Allgemeinplätzen, Wellness-Phrasen und Wahl-Versprechungen“. Unpopuläre Wahrheiten – z. B. Altersarmut wegen Staatsverschuldung; Verteilungskampf zwischen den Generationen, statt Zusammenhalt von Jung und Alt; regulierungswütige Bürokratie als Hemmnis für Selbstverantwortung – werden nicht thematisiert.
Stattdessen malt die Bundesregierung in ihrem Demografiebericht ein beschönigendes Bild von „gewonnenen Jahren für ein erfülltes Leben“.
Die Bürger/innen sind also gut beraten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen! Hierbei sei besonders die Generation 60plus gefragt, sagt Prof. Schneider: „In diese Altersgruppe wachsen künftig deutlich mehr qualifizierte Menschen mit guter Gesundheit hinein als bisher. Sie kann aufgrund ihrer Zeitautonomie und ihres Erfahrungswissens langfristig – über Wahlperioden hinaus – denken und handeln.“ INA will dieses Potenzial bündeln und nutzen, u. a. für die:
- Entwicklung tragfähiger und nachhaltiger Konzepte für eine Zivilgesellschaft der Zukunft,
- basisdemokratische Mitgestaltung auf allen politischen Ebenen,
- Schaffung eines aufgeklärten Staatsverständnisses als Grundlage für bürgerschaftliches Engagement,
- freiwillige Bürger/innen-Arbeit für die Gemeinschaft konkret vor Ort.
„INA bedeutet gesellschaftspolitische Teilnahme, Teilhabe und Teilgabe von unten nach oben.“ Denn:
INA – das sind wir!
Cornelia Filter / Birgitt Lammert