Paderborn (hp). Eine Kulturhistorikerin in Paderborn arrangiert Abbildungen von David- und Goliath-Statuen aus verschiedenen Epochen auf ihrem Laptop, der Bildschirm zeigt einen Raum, einem Büro ähnlich. In diesem Raum befinden sich Ordner mit weiterführender Literatur, Protokollen der Forschungsgruppe, Videoaufnahmen einiger Skulpturen und persönlichen Notizen. Sie führt eine Analyse durch und notiert ihre Ergebnisse auf elektronischen Notizzetteln an den Objekten. Gleichzeitig piept bei ihrem Kollegen in England das Smartphone. Die eingegangene Nachricht weist ihn darauf hin, dass es neue Erkenntnisse zur Analyse der Statuen gibt. Über den Webbrowser betritt er ebenfalls das Büro und kann sich unmittelbar in den Forschungsprozess einschalten.
Was sich anhört wie eine komfortable Zukunftsversion des wissenschaftlichen Arbeitens, ist Inhalt des Forschungsprojektes „studiolo communis“. Ein interdisziplinäres Forscherteam des Heinz Nixdorf Instituts (HNI) und der Universität Paderborn entwickelt in den nächsten zwei Jahren einen virtuellen wissenschaftlichen Arbeitsplatz. Dieses „virtuelle Studierzimmer“ ist inspiriert von dem in der Renaissance entstandenen „studiolo“, einem mit Kunstwerken, Studienobjekten, Büchern und Portraits anderer Gelehrter gefüllten Raum, der zum Sammeln, Studieren und Besinnen einlud.
„Kunst- oder Architekturwissenschaftler greifen heute, um vergleichende Analysen durchführen zu können, auf verschiedenste Datenbanken zurück, in denen Abbildungen von Gemälden, Skulpturen oder Ton- bzw. Videoaufnahmen von alten Bauwerken oder rituellen Stammestänzen etc. archiviert sind“, erläutert Prof. Dr. Eva-Maria Seng, Inhaberin des Lehrstuhls „Materielles und Immaterielles Kulturerbe UNESCO“: „Ihre Forschungsergebnisse erarbeiten sie in unterschiedlichen Systemen auf dem eigenen Rechner und können sie der Forschungscommunity immer nur bruchstückhaft mitteilen.“
Die Arbeit im virtuellen Wissensraum „studiolo communis“ wird es den Wissenschaftlern ermöglichen, auf Bildarchive und digitale Bibliotheken zuzugreifen und sich so Bilder bzw. Literatur in ihr Studierzimmer einzustellen, an den Texten und Objekten zu arbeiten, sie mit Notizen zu versehen usw. Es können zusätzlich relevante Unterlagen wie Protokolle, Korrespondenz, Vortragsunterlagen u. v. m. nicht nur in Ordnern abgelegt, sondern auch mit anderen Unterlagen bzw. den Bildern verknüpft werden. Zugang zu diesem Wissensraum hat derjenige, der in ihm arbeitet. Er kann aber seinen Fachkollegen den Zugang gestatten bzw. andere Wissenschaftler unabhängig von deren Standort dorthin einladen und mit ihnen zusammenarbeiten.
„Das studiolo communis“, beschreibt Prof. Dr.-Ing. Reinhard Keil, Leiter der Fachgruppe „Informatik und Gesellschaft“ am HNI, „soll nicht nur Arbeitsplatz sein, sondern auch die Kooperation zwischen den Wissenschaftlern durch seine komfortable, intuitive Handhabung fördern. Dazu haben wir an der Universität Paderborn mit dem Konzept der kooperativen Wissensräume ein tragfähiges System entwickelt, das wir nutzen können“. Das virtuelle Studierzimmer wird technisch in das koaLA-System, die zentrale eLearning-Plattform der Universität Paderborn, eingebunden. Dies geschieht in Kooperation mit dem Zentrum für Informations- und Medientechnologien (IMT). Dipl.-Inform. Andreas Oberhoff, Mitarbeiter von Prof. Keil und zuständig für die Entwicklung der Arbeitsoberfläche: „Der virtuelle Wissensraum wird von jedem Smartphone, Laptop oder anderen Geräten aus erreichbar sein, denn der Nutzer braucht nur einen Internetzugang und einen Browser. Das macht nicht nur das Arbeiten komfortabel, sondern auch die Kommunikation“.
„Mit diesem virtuellen Studierzimmer schaffen wir einen festen Ort, an dem Forschungsobjekte als Bild oder Tondokument und Forschungsergebnisse untersucht, arrangiert, verknüpft, diskutiert und kommentiert werden können“, sind sich Prof. Dr. Seng und Prof. Dr.-Ing. Keil sicher.
Das Forschungsprojekt „studiolo communis“ – Aufbau einer ko-aktiven Arbeitsumgebung für einen erweiterten Forschungsdiskurs in der Kunst- und Architekturgeschichte zur Unterstützung des UNESCO Kompetenzzentrums „Materielles und Immaterielles Kulturerbe“ wird im Rahmen des Programms „Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssystem“ (LIS) von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit 378.000 € gefördert.
Infos unter http://imt.uni-paderborn.de/studiolo