Es war der große Moment, auf den alle gespannt gewartet hatten: Am gestrigen Mittwoch, 10. Februar, um Punkt Viertel nach vier öffnete sich die Tür des Audimax und sie kam herein: Herta Müller, Schriftstellerin und Ex-Gastdozentin der Uni Paderborn. Ihrem Auftritt folgt großer Applaus – ein Applaus, mit dem das Publikum im vollbesetzten Audimax ihre großartigen schriftstellerischen Leistungen würdigt, für die sie vor kurzem mit dem Literaturnobelpreis bedacht wurde. Den Roman „Atemschaukel“, der den Ausschlag für die größte Auszeichnung in der Literaturbranche gab, stellte die Preisträgerin gestern hier in Paderborn vor.
Verlegen und fast ein bisschen beschämt reagierte die Literarin auf den großen Beifall und das sie umgebende Blitzlichtgewitter. Nach einführenden Worten durch Literaturprofessor Prof. Dr. Norbert-Otto Eke, der die rumänisch-deutsche Schriftstellerin vor gut zwanzig Jahren auch als Gastdozentin an die Uni geholt hatte, begann Herta Müller ihre Lesung mit dergleichen Lakonie, die auch ihre literarische Sprache kennzeichnet. Auf ein „Guten Tag“ folgte ein gut einstündiger Vortrag, in dem sie ausgewählte Kapitel aus ihrem Roman vorstellte. Während ihrer sehr eindrücklichen und klaren Rezitation war es im größten Hörsaal der Uni – alle Karten für die 620 Sitzplätze waren innerhalb von 90 Minuten vergriffen gewesen – mucksmäuschenstill.
In „Atemschaukel“ schildert Herta Müller das Leben eines jungen Mannes in einem russischen Arbeitslager. Die eigenen Gesetze, die hier herrschen, und die existenzielle Bedrohung bis hin zur Todesangst beschreibt die Autorin in ihrer ganz eigenen Sprache voller düsterer Metaphern. Wer sich den Lebensbedingungen im Lager nicht anpasst, der hat verloren: „Man darf nie anfangen zu weinen, wenn man zu viele Gründe hat.“ Der „Hungerengel“ ist im Lager allgegenwärtig, „der Hunger wird nie müde“. Eine Metapher zur Umschreibung des unerträglichen Hungergefühls führt auch zur Interpretation des Romantitels: „Hunger lässt den Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium.“ Nach der Lesung reagierte die Schriftstellerin auf Nachfragen zur Interpretation des Titels abweisend. Entsprechende Textpassagen wiederholend, sagte sie bestimmt: „Mehr kann ich nicht sagen – will ich auch nicht.“
Literaturwissenschaftler Norbert-Otto Eke bewunderte Müllers „artistischen Umgang mit Sprache“ und den „unverwechselbaren Ton“, mit dem die Autorin die „Abrichtung des Ich“ in einem Terror-Regime beschreibt. Ihre biographischen Erlebnisse und subjektiven Erfahrungen weite sie mittels Verdichtungsmechanismen des Traums und einer Schichtung von Metaphern ins Modellhafte aus und schaffe damit eine eigene poetische Wirklichkeit. In ihren Werken setzt sich Herta Müller mit der Unterdrückung und Verfolgung deutschstämmiger Rumänen nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander, mit ihrer eigenen Kindheit in der ganz und gar nicht idyllisch geschilderten rumänischen Provinz. Ihre Mutter verbrachte fünf Jahre in einem Arbeitslager, wie es in „Atemschaukel“ geschildert ist. Vorbild für ihre Romanfigur aber war der rumänische Lyriker Oskar Pastior. Seine Gedichte und die persönlichen Gespräche mit ihm seien ihre wichtigste Quelle gewesen, berichtet die Autorin im Anschluss an die Lesung, plötzlich erstaunlich offen, im Gespräch mit den Literaturwissenschaftlern Hartmut Steinecke und Norbert-Otto Eke. Mit Oskar Pastior und durch ihn versuchte sie das Leben und die Geschehnisse im Lager nachzuvollziehen. „Mit Moral in unserem Sinne kam man dort nicht weiter“, stellte sie abschließend fest. Ihr Buch ist auch eine Hommage an den in der Zwischenzeit verstorbenen Pastior.
Text/Fotos: Frauke Döll