Bühne: Real­ität, Geschichte und Ak­tu­al­ität raum­bil­dender Prozesse

14.-16. Juli 2011: Symposium an der Universität Paderborn, B3.231

Das Symposium ‚Bühne: Realität, Geschichte und Aktualität raumbildender Prozesse' untersucht, wie Bühne als raumzeitliche Bedingung theatraler Prozesse und rezeptorischer Erfahrung theoretisch beschreibbar ist. Die Frage ist, welche Signaturen von Bühne historische und zeitgenössische Theater- und Tanzperformances nahe legen.

Wissenschaftler und Künstler widmen sich Theaterformen, die über die Dimensionalität herausgehen und beispielsweise zeiträumliche oder zeitörtliche Verschiebungen von Bewegungsfolgen als Konzept raumbildender Prozesse erfahrbar machen. Sie befragen die Bühne als ein Geschehen, das seinen Ort und seine Zeit nicht a priori hat, sondern erst sucht.

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Programm

Donnerstag, 14. Juli 2011

14.00 Uhr Begrüßung und Einführung durch Norbert Otto Eke, Ulrike Haß, Irina Kaldrack

14.30 Uhr Bernhard Waldenfels (Bochum)
Die Bühne als Brennpunkt des Geschehens

Der Vortrag skizziert Leitideen einer Phänomenologie des Theaters. Zentral ist die Idee der Bühne als Ort und Zeit eines Geschehens, das von pathischen Impulsen in Gang gesetzt wird, das in der Darstellung seine Antwort findet und das sich zwischen Schauspielern und Zuschauern abspielt. Dabei ergeben sich wichtige Aspekte wie die mimetische Differenz von Dargestelltem und Darstellendem, die Abgrenzung von Bühnenraum und Bühnenzeit, das Verhältnis von spielerischer Fiktion und Lebensernst und Überschüsse des Undarstellbaren.

16.00 Uhr Pause

 

Panel 1 | Zwischen-Räumlichkeit

16.30 Uhr
Christoph Rodatz (Dortmund)
Der Schnitt durch den Raum als Wahrnehmungskonstellation

Was bestimmt das Zwischen von Bühne und Publikum? Diese Frage behandeln vielfältige Konzepte. Bringt man sie auf einen – für mein Anliegen verknappten – gemeinsamen Nenner, so beschreiben sie dieses Zwischen als Wirkungsraum zwischen Subjekt und Objekt. Dabei hat das was im Bühnenraum vor sich geht, eine Präsenz, die vom Publikum als greifbares Etwas wahrgenommen und als rezipierbarer Text beurteilt werden kann.

Was in diesen Konzepten zu kurz kommt, ist der Anteil des Zwischens, der eben nicht lesbar und nicht aus einem abgerückten Zustand beurteilbar ist. Es geht um meine leibliche Anwesenheit im Raum und das was ich Spüre und Erfahre, ohne darauf zu achten, wer oder was es konkret verursacht, wie oder ob ich davon abrücken kann, um es für mich lesbar zu machen. Atmosphäre wie sie Gernot Böhme beschreibt, liefert eine Grundlage, für eine Beschreibbarkeit dieses Zwischen. Es ist grundlegend für das Theater und soll hier als Schnitt durch den Raum des Theaters vorgestellt werden.

 

17.30 Uhr
Marita Tatari (Bochum)
Bühne des Dramas. Primäre Exposition und Raum ästhetischer Erfahrung

Die Guckkastenbühne, als Container einer raum-zeitlichen Abgeschiedenheit, ermöglichte die Erzeugung einer Zeit, welche aus sich selbst wuchs, und erlaubte der Abwicklung der dargestellten Situation sich als notwendig darzulegen. So formte die Guckkastenbühne die Bedingung für den absoluten Charakter der dargestellten Handlung: die Darstellung einer Handlung, die „reiner Bezug zu sich selbst“ ist, wie es Peter Szondi, Hegel auslegend, formuliert. Der Status aber, den Hegel dabei dem Drama und zwar dem neuzeitlichen Drama und dessen Absolutem beimisst, verleiht dieser Konstellation ein großes Potenzial.

Das neuzeitliche Drama hat die Erfahrung der antiken Tragödie hinter sich. Die antike Tragödie legt Hegel als Erfahrung des konstitutiven Widerspruchs der Kunst aus (deren Ideal die antike Skulptur ist). Ausgeschieden von der „Kunst-Religion“ der Antike, hat das neuzeitliche Drama seine Negativität erkannt: Es muss sie nicht als tragisch erfahren. Das neuzeitliche Drama weiß, dass sein Absolutes paradoxerweise keine Totalität bildet, dass es nur eine sinnliche Gestalt des Absoluten sein kann: Seine Sinnlichkeit verweist auf ihre eigene Überwindung oder Aufhebung. Das heißt aber, dass das Drama das Absolute als Gestaltung, d.h. als die Vergänglichkeit des Aktes der Gestaltung erfahren lässt: als Plastizität und Verräumlichung dessen, was es von vornherein als Entgangenes kennt.

Unter dieser Perspektive betrachtet, gewinnt Szondis Auffassung der Bühne als einer Abgeschiedenheit, die die Absolutheit des Dramas ermöglicht, eine neue Spielbreite. Die Bühne ermöglicht das Erscheinen eines Absoluten, das nichts als seine eigene Formbarkeit ist: ein Exponieren oder Nach-außen-Stellen dessen, was kein Innen hat. Folglich ist die dramatische Bühne nicht als Abgesondertheit, die einen anderen Raum und eine andere Zeit zur Entfaltung kommen lässt, zu verstehen, sondern als Abgesondertheit, die die Emergenz selbst von Raum und Zeit in ihrer Vergänglichkeit erfahren lässt. Sie höhlt „den reinen Bezug zu sich selbst“ (Szondi) der dargestellten Handlung, sie stellt ihn als Äußerlichkeit aus. Statt jenen „Bezug zu sich selbst“ ermöglicht schließlich die Bühne das „Selbst“ als reinen Bezug zum anderen: die primäre Exposition, die den Raum der ästhetischen Erfahrung zeitigt.

18.30 Uhr Pause

 

19.00 Uhr
Nikolaus Müller-Schöll (Hamburg)
Raum-zeitliche Kippfiguren. Endende Räume in Theater und Performance der Gegenwart

Die Diskussionen um spatial bzw. topographical oder topological turn (Soja, S. Weigel, Waldenfels) legen ebenso wie die Studien zur Erfindung der Perspektive (Damisch), der auf ihr aufbauenden „Bühnenform“ und dem darin angelegten „Dramas des Sehens“ (U. Haß) nahe, die geläufigen, noch immer dominanten Vorstellungen von Bühne als einem unter den Paradigmen des Bildes, des Raumes oder der Dimensionalität zu begreifenden Phänomen kritisch zu befragen. Diese Befragung fand in der Vergangenheit im Theater selbst häufig unter dem Vorzeichen einer Kampfansage an die „Guckkastenbühne“ statt. Von den Theateravantgarden um 1900 bis in die gegenwärtige Praxis der Performance, des Tanztheaters und der vielfältigen Theaterformen, die Hans-Thies Lehmann unter dem Sammelnamen des „postdramatischen Theaters“ zu fassen versuchte, reicht eine niemals abgerissene Kette der Auseinandersetzungen mit jenem Dispositiv, das sich aufbauend auf den Entwürfen und Modellen der Frühen Neuzeit und unterstützt von den programmatischen und philosophischen Schriften des 18. Jahrhunderts in seiner Reinstform im 19. Jahrhundert herausbildet, um letzten Endes allerdings erst in Kino und Fernsehen zu sich selbst zu kommen. Lange Zeit waren kritische theatrale Praktiken allerdings vom vorschnellen Schluss geprägt, man habe Guckkastenbühne und Vierte Wand bereits überwunden, wenn bloß die Rampe überschritten und die Zuschauer zum Betreten des Spielraumes animiert würden. Dagegen möchte ich in meinem Vortrag entwickeln, daß es zur Auflösung der dominanten Vorstellungen von Bühne einer Form des Arbeitens am Raum bedarf, die das „Ende vom Raum“ (Libeskind) in Gestalt einer Figur und deren Auflösung vor Augen führt. Anhand von markanten Beispielen der letzten Jahrzehnte möchte ich dies erläutern, indem ich nachzeichne, wie in Gestalt von Kipp-Figuren im Verlauf eines Theaterabends, einer kürzeren oder längeren Szene oder eines Szenenwechsels sich eine Bühnenform auflöst, um einer anderen Raum zu geben und damit zugleich die eigene Raumvorstellung wie die eröffnete als gleichermaßen endliche zu kennzeichnen, als homogene und isotrope Räume, die sich im Moment einer Unterbrechung für das Ereignis des Anderen öffnen. Ein besonderer Focus soll dabei auf der Frage liegen, wie dieser Moment der Unterbrechung genau zu denken ist.

 

Freitag, 15. Juli 2011

Panel 2 | Immaterielle Räume

9.30 Uhr
Künstlergespräch mit Hofmann&Lindholm (Köln)
Über Privatisierungen des Öffentlichen und Pre-Enactment

Hofmann&Lindholm bilden ein interdisziplinär agierendes Regie- und Autorenduo, das seit 2000 interdisziplinäre Projekte an der Schnittstelle zwischen szenischer, bildender und akustischer Kunst realisiert. Ihre auf Interventionen und Komplizenschaft basierenden Inszenierungen bedienen sich serieller Mittel und kreisen um Fragen der Selbstbehauptung, um Themen wie Aneignung, Anpassung, Nachahmung.

Hannah Hofmann und Sven Lindholm sprechen über das Einbeziehen des öffentlichen Raums in ihre Projekte und erläutern anhand ausgewählter Arbeiten ihr Konzept der (partiellen oder temporären) Privatisierung des Stadtraums. Ein besonderes Augenmerk wird auf das aktuelle, in Köln umgesetzte Projekt von Hofmann&Lindholm gelenkt werden, das sie als Pre-Enactment bezeichnen. In der Stadt des eingestürzten Stadtarchivs errichten sie momentan ein  „Archiv der zukünftigen Ereignisse“, in dem sie sich mit den Projektionen der Stadtbevölkerung beschäftigen und erwartbare, kommende Geschehnisse in akustisch inszenierter Form konkret vorwegnehmen. Das „Archiv der zukünftigen Ereignisse“ wird mit mittels GPS und Internethandys ab Oktober als Hörspiel im öffentlichen Raum begehbar sein.

 

10.30 Uhr
André Eiermann (Frankfurt am Main/Gießen)
„Beyond the scope of human vision“. Bühnen für andere Blicke

‚Bühne‘ ist ein dehnbarer Begriff, und zwar im buchstäblichen Sinne: Bühnen lassen sich ausdehnen, vergrößern, erweitern – bis in Dimensionen, die sich vom herkömmlichen Standpunkt eines menschlichen Zuschauers aus nicht mehr überblicken lassen. 2008 rekonstruierte so z.B. die Gruppe Motherboard mit ihrem Projekt Desert Walker die Choreographie von Samuel Becketts Teleplay Quad „[o]n a stage that stretches beyond the scope of human vision“ (http://www.liveart.org/desertwalker/index.html), indem sie eine vielfach vergrößerte Version des in dieser Choreographie von vier Performern abzulaufenden Quadrats in die Salzwüste von Utah übertrug.

An welche Blicke aber richten sich Inszenierungen, die auf derart ausgedehnten und für menschliche Zuschauer unübersichtlichen Bühnen aufgeführt werden? Wie verhalten sie sich zu konventionellen Theater- und Bühnenbegriffen? Setzen sie die kritische Auseinandersetzung mit dem Phantasma eines allsehenden Über-Blicks fort oder sich vielmehr kritisch mit der Fortsetzung dieses Phantasmas durch Formen seiner vermeintlichen Kritik auseinander? Und welche konkreten und/oder abstrakten Bezüge gehen sie dabei zu Technologien wie GPS oder Google Earth ein, in denen dieses Phantasma seine zeitgenössische Ausprägung bzw. (post)panoptische Umsetzung findet? Diesen und ähnlichen Fragen geht der Vortrag mit Blick auf unterschiedliche Beispiele aus dem Bereich der zeitgenössischen szenischen Kunst nach, die über den Horizont horizontal-zwischenmenschlicher Blickverhältnisse hinausgehen.


11.30 Uhr Pause

 

12.00 Uhr
Jörn Etzold (Gießen/Bochum)
Bühne und Bühnen

Wie nur wenige Worte in den europäischen Sprachen scheint das Wort „Bühne“ (stage, scène) den Singular vorauszusetzen; vor allem dann, wenn es als Metapher verwendet wird: „All the world‘s a stage“, schreibt Shakespeare. Bevorzugt ist die Bühne indes Metapher für den Schauplatz der Politik: Karl Marx spricht von „der revolutionären Bühne“ (auf welcher das Proletariat „in den Hintergrund“ gedrängt wird) und noch Jacques Rancières behauptet: „Die Politik ist zunächst der Konflikt über die Existenz einer gemeinsamen Bühne.“ Die Bühne definiert und umgrenzt erst den Ort, über den dann verhandelt werden kann, in dessen Rahmen Konflikte stattfinden. Nur durch die Einheit der Bühne kann – in der aristotelischen Tradition – auf ihr das Drama als Durchführung eines Konflikts und Inszenierung der Adresse stattfinden; und nur durch ihre Einheit kann sie auch den politischen Konflikt in sich ermöglichen. Korrelat dieser einen Bühne (der Welt, der Politik) wiederum ist ihr Jenseits, die Hinterbühne, das Off oder das Obszöne: Das Obszöne kann nur das Jenseits der einen Bühne sein. Alle Versuche, das Obszöne zu artikulieren, bleiben ebenso wie jene, denen eine Sprache zu geben, die nicht auf der Bühne sind, an das Modell der einen Bühne gebunden, welches, so scheint es, von der Genesis des modernen Subjekts untrennbar ist.

Die Frage, die ich in meinem Vortrag stellen möchte, ist eine recht einfache: Kann es mehrere Bühnen geben – oder kann dann nicht mehr sinnvoll von „Bühne“ gesprochen werden? Welche praktischen Beispiele einer Vervielfältigung der Bühnen gibt es? Die Untersuchung soll sowohl vormoderne Praktiken (z.B. die Simultanbühne) wie auch bei neuere Experimente adressieren, die die eine Bühne hinterfragen. Schließlich sollen die Ergebnisse an die metaphorische Rede von „der Bühne“ zurückgebunden werden: Was wäre eine Politik, die nicht „Konflikt über die Existenz einer gemeinsamen Bühne“ ist, sondern die verschiedene Bühnen bespielt? Könnte sie noch den Namen „Politik“ tragen?

 

13.00 Uhr Mittagspause

 

Panel 3 | Endende Räume

14.30 Uhr
Martina Leeker (Berlin)
Theater als Raumkunst. Aspekte ihrer Wissens- und Technikgeschichte

Um 1900 wird Theater vor allem von Edward Gordon Craig und Adolphe Appia als Raumkunst entdeckt und von Max Herrmann theoretisch (1931) fundiert. Diese paradigmatische Wende in Theater ging mit der Verabschiedung der Literatur einher, um die originären Mittel des Theaters freizusetzen. Als Raumkunst konnte Theater alles machen und werden, denn auf die Bühne traten nun invariante und zugleich bedeutungsoffene Symbole. Diese Entwicklungen sollen mit der um 1900 in Mathematik und Sprachwissenschaft aufkommenden formalen und universellen Logik zusammengedacht werden. Die Überlegung ist, dass in Theater wie in Mathematik künstliche Welten entstehen, die einer Überprüfung an Wirklichkeit nicht mehr bedürfen, sondern nur noch sich selbst genügen müssen. Fluchtlinie dieser Entwicklung ist eine Verabschiedung des Menschen von der Bühne, da er diesen künstlichen Welten nicht mehr genügen kann und muss. Dies zeigt vor allem an Theater mit computergenerierten Räumen (Sacre du Printemps von Klaus Obermaier).

Die Besinnung von Theater auf Raum entspricht also dem Abschied vom menschlichen Akteur. An seine Stelle treten sich selbst organisierende künstliche Welten, die Übersinnliches kolportieren sollen. Vor diesem Hintergrund erhält die Verabschiedung der Materialität des Dispositivs im aktuellen Raumdiskurs eine andere Relevanz. Sie scheint der Durchsetzung künstlicher Welten noch Vorschub zu leisten. Übersehen wird dabei, dass die immaterielle Bühne sowie ihre Künstlichkeit selbst ein Dispositiv sind, nämlich das einer Welt der Software.

 

15.30 Uhr
Nicola Suthor (Heidelberg)
(Theater)Gräben. Die untere Bildkante in der Malerei der Frühen Neuzeit

In der Tafelmalerei wie auch in der Graphik der Frühen Neuzeit werden an unteren Bildkanten oft Gräben aufgerissen; die Betrachtenden schauen dann auf Felsenvorsprünge oder gemauerte Kellergeschosse. Die untere Bildkante erhält als Rampe massiv Gewicht. Manchmal weisen Treppen den Weg auf die Bühne des Geschehens. Die Untersicht erzwingt vom Betrachter das Aufschauen, weshalb diese Besonderheit des Bildbaus in der kunsthistorischen Literatur, die sich bisher kaum mit dieser kompositorischen Auffälligkeit befasst hat, kurz mit christlicher Devotionspraxis erklärt wurde. Die Zuweisung einer derartigen Handlungsrolle gilt es genauer zu analysieren. Auch scheint es viel versprechend, die verschiedenen formalen Ausprägungen der Distanznahme zum Betrachter, welche erst den notwendigen Spielraum schafft, unter dem Aspekt der  Installierung einer sogenannten „ästhetischen Grenze“ (Michalski) und deren theatraler Aufladung genauer zu untersuchen. Denn die Markierung der unteren Bildkante, die den fiktiven Bildraum vom realen Betrachterraum abhebt und als Schwellenraum Teil der Fiktion des Bildes selbst ist, positioniert den Betrachter zum Dargestellten, ‚informiert' ihn und lenkt den Zugang zum Dargestellten.

 

16.30 Uhr Pause

 

17.00 Uhr
Sebastian Kirsch (Bochum)
Schauanlage und Schauauslage. Zur Geschichte von Bühnenraum, Subjekt und Warenform

Der Einzug der Theater in die geschlossenen Innenräume um und nach 1600 verläuft analog zur Entbindung des neuzeitlichen Subjekts aus kosmischen Bezügen: Beide Vorgänge sind Teil eines umfassenden Deterritorialisierungsprozesses der Frühen Neuzeit, in dessen Verlauf (Körper)-Bilder und Zeichen sich aus alten „Bindungen“ lösen, transportabel werden und als vermeintlich autonome Akteure zu zirkulieren beginnen wie Geldstücke oder Waren.

Diese Nähe zur Warenform ist kein Zufall. Was sich um 1600 abzeichnet, ist in der Tat eine enge Zusammengehörigkeit der frühneuzeitlichen Bühnenarchitektur(en), der sich neu generierenden Begehrensstruktur des Subjekts und der entstehenden Welt der Ökonomie: Die neue Sichtbarkeit des Schauspielers und die Warenförmigkeit des Körperbildes, die ungeheure Ansammlung von Schauobjekten in barocken „theatrum mundi“-Utopien (Leibniz) und die „ungeheure Warenansammlung“ (Marx) hinter den Schaufenstern der kapitalistischen Gesellschaften wie überhaupt die Paradigmen dramatischer Handlung und ökonomischen Handelns sind von Anfang systematisch verknüpft.

In meinem Vortrag gehe ich von der These aus, dass das mit der neuen Bühnenform möglich gewordene „Eintauchen“ des Subjekts in einen virtuellen „Raum“ (der eigentlich nicht mehr als solcher bezeichnet werden kann) zwar mit dem „Eintauchen“ in die Konsumtionsvorgänge der Warenwelt vergleichbar ist, dass dabei aber nicht vergessen werden darf, dass das neuzeitliche Subjekt von Anfang an gleichursprünglich ist mit seiner eigenen Spaltung in eine (bewusste) Vorder- und eine (unbewusste) Rückseite. Diese Spaltung schlägt sich, als Synonym einer unhintergehbaren Abhängigkeit und Nichtablösbarkeit des Subjekts aus gesellschaftlichen (nicht mehr kosmischen) Bezügen, auch in der frühneuzeitlichen Bühnenarchitektur und in deren Erbe nieder. Sie kommt allerdings nur da zum Vorschein, wo die Räumlichkeit der Bühne gegenüber ihrer Bildlichkeit hervortritt bzw. in den Widerstreit mit ihr gerät.

Anhand von Raumbeispielen, die drei Zeiten entstammen (1600, 1900, 2000) und sich als Ineinander von Bühnenraum und Warenhaus lesen lassen, fluchtet der Vortrag auf die Frage hin, inwiefern die von Anfang an fragile Spaltung des Subjekts in den heutigen Räumen oder Nicht-Räumen der „Spektakelgesellschaft“ selbst bedroht ist. 

 

18.00 Uhr


Birgit Wiens (Berlin/München)
Verkabelte Bühnen. Liveness, Fernräumlichkeit und Tele-Präsenz

Der Vortrag greift u.a. Thesen von Philip Auslander zu ‚digital liveness‘ auf (Transmediale Berlin, 2011): demnach wird v.a. im Umgang mit Digitalmedien und Internet erweitert, modifiziert und ‚verräumlicht‘, was wir heute als ‚Live‘-Vorgang erleben. Spätestens seit der Jahrtausendwende hat das Paradigma der Telekommunikation die kulturellen Ordnungen des Raums (vgl. die Spatial Turn-Diskussion) sowie auch seine Phänomenologie signifikant verändert: stellte man sich den Lebensraum zuvor – gleichsam in konzentrischen Kreisen – in Nahraum, Umraum und Fernräume gestaffelt vor, so führte die mediale Vernetzung dazu, dass Nah- und Fernräume, reale und virtuelle Räume heute vermehrt in komplexer wechselseitiger Durchdringung gedacht werden (Waldenfels), als dynamische Netzstrukturen und heterogene Relationen (Ott).

Der Beitrag fragt, wie das Theater auf diesen Wandel der Raumvorstellungen und -erfahrungen reagiert. Im Mittelpunkt stehen hierbei Konfigurationen intermedialer Bühnen, mit denen seit wenigen Jahren Spielarten von ‚Live‘-Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Theater und anderen Medien in neuartiger erprobt werden. Wie am Beispiel von Rimini Protokolls Projekt „Breaking News“ (2008) gezeigt werden kann, reflektieren solche Projekte Phänomene von Fernräumlichkeit und Tele-Präsenz, die den Radius des leiblich unmittelbar erfahrbaren ‚Hier und Jetzt‘ weit überschreiten; mit ihnen deutet sich auch im Theaterkontext eine ‚Raumwende‘ an, deren Merkmale präzisiert werden sollen.

 

19.00 Uhr Pause

 

20.00 Uhr
Claudia Bosse (Wien)
'Performance-Lecture im Atelier S1.100Spaces and Situations. Some Methods

Im Rahmen dieses Symposions wird am 15. Juli um 20.00 Uhr im Kunst-Silo der Universität Paderborn eine Performance-Lecture der 2009 mit dem Nestroy-Theaterpreis ausgezeichneten Performance-Künstlerin und Regisseurin Claudia Bosse vom „theatercombinat wien“ zum Thema „Spaces and Situations“ stattfinden.

In einem mehrkanaligen Sound Environment, das den Zuschauer inmitten des Soundraums platziert, befragen Claudia Bosse und Günther Auer die klassischen Raumkonstruktionen der Bühne. Sie erproben Theater als Möglichkeit kollektiv hergestellter Erfahrungs- und Denkräume.

 

Samstag, 16. Juli 2011

Panel 4 | Bühnen Politiken

9.30 Uhr
Künstlergespräch mit Claudia Bosse (Wien) und Günther Auer (Wien)
Akustische Räume, Archiv und Imagination

 

10.30 Uhr
Hans-Christian von Herrmann (Berlin)
Von der Illusion zur Simulation. Die Bühne des epischen Theater

Anhand von Bertolt Brechts theoretischen Überlegungen der 1930er und 1940er Jahre wird der Vortrag zeigen, in welcher Weise das epische Theater auch in raumästhetischer Hinsicht mit der Bühne des 19. Jahrhunderts bricht. Die Kritik des psychologischen Illusionstheaters zielt auf ein Abbildungsverfahren, das den Charakter statistischer Modellbildung besitzt. Die Bühne erhält damit die Aufgabe, analog zur Modellbildung in den Natur- und Technikwissenschaften, menschliches Verhalten als raum-zeitlichen Prozess zu simulieren. Weiterhin wird zu zeigen sein, wie Brechts Schüler das epische Theater im Laufe der 1960er Jahre als kybernetisches Gefüge begriffen, das neue Möglichkeiten einer Selbstregulierung der modernen Gesellschaft eröffnen sollte.

 

11.30 Uhr Pause

 

12.00 Uhr
Meike Hinnenberg (Bochum)
Ausstreichung der Bühne. Überlegungen zum Ort der Bühne im Anschluss an Derridas chora

Die Frage nach dem Ort der Bühne ist eine doppelte: Wo hat die Bühne ihre Statt und wem bzw. was gibt sie statt. Wie hängen das Statthaben und das Stattgeben der Bühne zusammen? Inwiefern ist die Bühne ein Ort und wie kann von ihr aus gesprochen werden?

In seiner Re-Lektüre des platonischen Topos χωρα fragt Derrida, wie die Notwendigkeit dessen zu denken ist, das sich nicht dem Gesetz der Opposition von intelligibel/sinnlich unterwirft, das sich widersetzt, obwohl es – eher als klaffende Öffnung, denn als Leere – dieser Opposition erst Statt gibt; was es mit dieser Statt auf sich hat, was sich unter ihrem Namen versammelt. In seiner Auseinandersetzung stehen mit dem Denken von chora sowohl die Darstellung als auch der Ort der Politik bzw. eine Politik der Orte auf dem Spiel. Und obwohl, wie Derrida schreibt, Sokrates im Timaios nicht chora ist – denn chora kann nicht als Seiendes gedacht werden – würde er ihr, wenn sie etwas wäre, ähnlich sein, weil er bereits in der Präambel, d.h. „auf der Schwelle/im Anfang, Platz für eine Behandlung des Platzes“ macht, indem er sich selbst ausstreicht. Es ist ein „unersetzlicher und nicht zu platzierender Platz, von dem aus er das Wort von denen aufnimmt, vor denen er sich ausstreicht, aber die es von ihm aufnehmen, denn er macht es so möglich, dass sie sprechen“.

Im Ausgang von Derridas chora möchte ich in meinem Vortrag fragen, ob und inwiefern die Bühne als Ausstreichung gedacht werden kann. Diese Fragestellung soll anhand von zwei Inszenierungen (Le Dernier Caravansérail, Théâtre du Soleil; Hotel Europa, Schlosstheater Moers) problematisiert werden, die in einer sich überkreuzenden Weise Räumen stattzugeben versuchen, die an den Rändern gesellschaftlicher Raumordnungen liegen und in denen der Topos „Ort“ selbst fraglich wird.

 

13.00 Uhr Ende des Symposiums